Degler denkt:Die letzte Chance der Genossen

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Vorwärts zurück: Mit dem Kurswechsel auf dem Hamburger SPD-Parteitag wollen die Sozialdemokraten aus dem Schatten der Union treten und der Linkspartei Paroli bieten.

Dieter Degler

Haben Sie auch schon mal SPD gewählt? Oder sind das für Sie unverändert die "Sozen", wie Helmut Kohl sie abfällig nennt. Hat es Sie zu Helmut Schmidts Zeiten zu den Grünen verschlagen? Oder hat Sie Gerhard Schröders Brioni-Kurs zur Linken vergrault? Oder gehören Sie zu denen, für die Schwarz-Gelb eine gewagte Abweichung vom richtigen konservativen Kurs wäre?

Die SPD vor ihrem Parteitag. (Foto: Foto: ddp)

Wo immer Sie stehen mögen: Was derzeit mit und in der SPD geschieht und am kommenden Wochenende auf dem Hamburger Parteitag einen Höhe- und Wendepunkt erreichen wird, könnte sich auf alle Parteien auswirken. Vordergründig, mag ja sein, geht es darum, wer in der Partei die Richtung vorgibt. Und diese Pole-Position, der Präsidiumsbeschluss zu Beginn der Woche hat es vorweggenommen, wird sich Kurt Beck bis zur Nominierung eines SPD-Kanzlerkandidaten nicht mehr nehmen lassen.

Dahinter aber wird eine Richtungsentscheidung von etwas höherer Bedeutung sichtbar. Der Parteitag wird nicht nur der nach Teilnehmern größte in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern auch ein Markstein für die Zukunft der SPD: Will sie den Kurs ihres Ex-Kanzlers modifiziert fortführen und sich damit die von ihr selbst erfundene Option "Neue Mitte" offenhalten? Oder soll sie, wie es die Parteilinke fordert, wieder näher an ihre alte Position als Arbeiter- und Sozialstaatspartei heranrücken?

Verletzter gesellschaftlicher Konsens

Bei der Entscheidung, wohin die Genossen sich wenden, überlagern sich mehrere Entwicklungen - vor allem eine große gesellschaftliche und eine, die sich die Partei selbst zuzuschreiben hat. Zum einen sind es Folgen der globalisierten Wirtschaft und die parallel dazu auftretende Fraktalisierung der Gesellschaft, die neue Definitionen des Sozialstaatsbegriffs fordern. Der internationale Wettbewerbsdruck auf den Wirtschaftsstandort Deutschland wächst mit der Folge, dass Minderqualifizierte und Leistungsschwache aus den Karriere- und Verdienstsystemen ausgesondert werden. Das ist schon heute so, wird aber morgen und übermorgen noch stärker werden. Die sinkenden Arbeitslosenzahlen sind erfreulich, aber wahrscheinlich nur ein Zwischenhoch.

Damit einher geht eine schleichende Entsolidarisierung der Gesellschaft mit der Tendenz zum Zerfall in soziale Klassen. Während manche viel Vermögen anhäufen, müssen andere trotz Arbeit zusätzliche Staatshilfe in Anspruch nehmen. Oder andersherum: Wer im Monat gerade so viel verdient, wie ein Topmanager in einer Stunde, fühlt sich nicht besonders fair einsortiert im einstigen Musterland für soziale Marktwirtschaft. Diese tatsächlichen und gefühlten Diskrepanzen zu verringern und den verletzten gesellschaftlichen Konsens wieder halbwegs herzustellen, gehört zu den vornehmsten und dringlichsten Aufgaben aller Parteien. Der Staat muss wieder zu einer fairen Clearingstelle der Interessen aller seiner Teile werden.

Zum anderen muss sich die SPD mit einer Entwicklung auseinandersetzen, die sie selbst verursacht hat: Zweimal in den vergangenen Jahrzehnten, unter den Kanzlern Schmidt und Schröder, hat sie sich so weit zur vermuteten Mitte hin orientiert, dass links von ihr neue Parteien entstanden. Das ist umso schmerzlicher, als im politischen Zentrum nichts dazugewonnen wurde. Dort war und ist die Union besser verankert.

Aussichtslos zwischen Sylt und Starnberger See

Hinzu kommt, dass in den Jagdgründen, in denen Schröder zu wildern versuchte, immer weniger zu holen ist. Die Villenbesitzer zwischen Sylt und Starnberger See lassen sich von Sozialdemokraten, auch von solchen mit Managergehabe, ohnehin kaum einfangen. Schon seit Jahren wird die ökonomische Mitte geschliffen. Wenige steigen auf, viele ab. Und wahrscheinlich wird in den Ordnungssystemen von Soziologen beim mittleren und unteren Mittelstand bald die Abstiegsangst als Standard-Unterscheidungskriterium Einzug halten.

Kurt Beck, den viele noch immer unterschätzen, stand mithin vor einer nicht allzu schwierigen Frage: Reicht das Mitregieren als Juniorpartner, um in zwei Jahren eine reale Chance zum Machtgewinn zu haben? Oder kann sich diese Aussicht nur dann eröffnen, wenn es gelingt, die SPD glaubhaft als eine Partei zu positionieren, welche die besseren Lösungsansätze für die Herausforderungen von heute und morgen hat? Und die sich auch als Interessenvertretung der sozial Schwächeren und Bedrohten versteht?

Dass es im Partei-Establishment nun ein wenig knirscht, hat Beck einkalkuliert. Auch der Pflock, den er in der Sache einschlägt, ist nicht übel gewählt: Denn so sehr auch Wirtschaftsgewaltige im Vorfeld des Parteitags vor einer Agenda-Rolle rückwärts warnen - die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere wird das konjunkturelle Momentum ebenso wenig hemmen wie die Verkürzung es befördert hat. Da wirken andere Faktoren weit stärker. Und erstmals nutzt die Partei im Streit um den besseren Kurs einen taktischen Vorteil gegenüber der Union: Während Angela Merkel als Kanzlerin und Parteichefin immer auch die CDU-Mitglieder mitnehmen muss, können die Sozialdemokraten, zumindest in Grenzen, ein erfolgsträchtiges Doppelspiel mit Druckwirkung auf den Koalitionspartner aufziehen: Hier die fordernde Partei, dort der pragmatische Regierungsflügel.

Die Gerechtigkeitsdomina der Union

So könnte der euphemistische Parteitagsclaim "Aufschwung für alle" vor allem Aufschwung für die Genossen bedeuten. Von Hamburg soll ein Signal ausgehen, auf das viele Parteimitglieder, Sympathisanten und Stimmbürger schon lange warten: Bei uns, so könnte das alte und wieder neue Credo lauten, ist das Soziale der Marktwirtschaft am besten aufgehoben. Wir sind für alle da - aber besonders für die nicht so Begünstigten und Begüterten. Das wird zwar weder Ursula von der Leyen, die Gerechtigkeitsdomina der Union, stoppen, noch den Einzug der Linken in den nächsten Bundestag verhindern. Und es wird der SPD auch nicht 40 Prozent der Wählerstimmen zurückbringen.

Doch es ist die vielleicht letzte Chance der Sozialdemokraten, als größte der linken Parteien zu überleben. Hamburg könnte die Initialzündung für den Neustart einer - geschrumpften - Volkspartei liefern, die bislang im Schatten der Union darbt. Eine runderneuerte SPD könnte die Erosion von Macht, Mitgliedern und Wählern verlangsamen, wenn nicht gar stoppen. Und mit seinem neuen Kurs entzieht Beck seinem Vor-Vor-Vor-Vorgänger Lafontaine und der Linken eine entscheidende Reibungsfläche.

Schon bei den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg wird man Anfang kommenden Jahres sehen können, ob sich die erwünschte Wirkung einstellt.

Dieter Degler ist Publizist und Unternehmensberater und war langjähriger Chefredakteur von Spiegel online.

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