"Death Row" in den USA:Der Tod in Huntsville

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Wie ein Ort von historischer Bedeutung mit dem Ruf fertig wird, Amerikas berüchtigste Hinrichtungsstätte zu sein

Peter Sartorius

SZ vom 13. November 1998

das letzte Stündlein immer im Auge. Uhr, rotes Telefon und Hinrichtungsliege ineiner amerikanischen Vollzugsanstalt (Foto: N/A)

Stadterkundung mit Leigh-Anne Gideon. Die junge Frau stoppt an einer abgelegenen Autowaschanlage und sagt: "Können Sie sich vorstellen, welche Angst wir alle hatten? Wir waren doch Teenager damals und so stolz auf unsere ersten Autos, und hier haben wir sie gewaschen und poliert. " Jeden Tag kamen Huntsvilles Teenager hierher - bis auch Daniel Corwin die Waschanlage aufsuchte, sich dort einer jungen Frau namens Mary Risinger näherte und sie von hinten erstach. Frau Risingers dreijährige Tochter sah der Tat aus dem verschlossenen Auto heraus zu, was den Täter offenbar irritierte, so daß er von seinem zweiten Vorhaben abließ. Anzunehmen ist, daß er sein Opfer nicht nur umbringen, sondern auch vergewaltigen wollte. In den Monaten zuvor war er schon zweimal so vorgegangen. Im Falle von Debra Ewing, der er am Huntsviller Vision Center aufgelauert hatte und die er verschleppte, erdrosselte und deren vermutlich schon toten Körper er mißbrauchte. Und im Falle von Alice Martin, die, vergewaltigt, erstochen und zusätzlich erwürgt, im Robertson County auf offenem Feld aufgefunden wurde, ein paar Tage nachdem er sie vor ihrem Haus überfallen und entführt hatte.

Das ist nun elf Jahre her, und Daniel Corwin war als Gelegenheitsarbeiter in Huntsville auf der Durchreise. In gewisser Weise ist er das auch heute wieder. Diesmal bewohnt er einen Käfig im Todestrakt der Ellis Unit, eines Gefängnisses für Schwerstkriminelle an Huntsvilles Stadtrand. Sofern alles nach Plan verläuft, wird er am Nachmittag des 7. Dezember in einem Bus in die Innenstadt gefahren werden, und zwar zunächst an dem zur Haftanstalt gehörenden Schweinemastbetrieb und dann an Rinderweiden vorbei, und dies wird, sofern das Fahrzeug Fenster aufweist, das letzte sein, was Corwin in seinem Leben an Natur sehen wird. In der Walls Unit, einer Haftanstalt unweit des Rathauses, wird ihm für einige Zeit ein frischbezogenes Feldbett in einer dreifach verschlossenen Zelle zur Verfügung stehen. Dann, in den Minuten nach 18 Uhr, wird man ihn an der Spitze einer kleinen Prozession in einen kahlen Raum am Ende des Zellenganges führen, mit soliden Lederriemen auf eine weiße Pritsche schnallen und durch eine Kanüle im Arm seinen Blutkreislauf mit einem Schlauch verbinden, der durch ein Loch in der Wand in einen Nebenraum führt. Von dort wird man, wenn letzte Formalitäten erledigt sind, ein tödliches Gift in seinen Körper spritzen und zusätzlich ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel sowie ein Muskelentspannungspräparat, so daß Corwin nicht verkrampft und beim Sterben nicht unnötig leidet, zumindest nicht im selben Maße wie seine Opfer.

Daniel Corwin ist auf einem Polizeiphoto abgebildet. Er hat ein Allerweltsgesicht weißer Hautfarbe. Aus den Personenangaben geht hervor, daß er aus der Umgebung von Los Angeles stammt und zur Tatzeit 29 Jahre alt war - ein Jahr älter, als Leigh-Anne Gideon heute ist. Diese Leigh-Anne Gideon sieht noch immer wie ein Teenager aus, obwohl sie mit beiden Beinen längst fest im Berufsleben steht. Sie ist Gefängnisreporterin der Lokalzeitung Huntsville Item und wird deshalb bei Corwins Hinrichtung dabeisein. In diesem Jahr hat sie bereits 14 Exekutionen beigewohnt, aber die ganz große versäumt, jene von Karla Faye Tucker, die am 3. Februar als erste Frau in Texas hingerichtet worden war.

Es war für Huntsville ein Ereignis, das etwas von einer Zirkusveranstaltung an sich hatte, wie Chief Hank Eckhardt, der Polizeichef, mit deutlicher Mißbilligung in Blickrichtung des Fernsehens sagt, das damals mit Satellite Trucks, den Übertragungswagen, die Zufahrten zur Walls Unit heillos verstellt hatte. Aber der Presserummel hatte aus der Sicht der Gemeinde auch einen erfreulichen Effekt, auf den Huntsvilles ehrenamtlicher Bürgermeister William B. Green, ein Wirtschaftsprofessor der örtlichen Sam Houston State University, nach der Hinrichtung der geläuterten Doppelmörderin mit der passenden Metapher zu sprechen kam. Das Ereignis, so hob er hervor, sei eine belebende Spritze in den Arm der lokalen Wirtschaft gewesen.Und damit hat man als Besucher Huntsvilles auch schon eine erste Antwort auf die Frage erhalten, wie eine amerikanische Kleinstadt mit dem Umstand fertig wird, daß sie mit und von Gefängnissen lebt und ihre Existenz untrennbar mit Verbrechen und deren Ahndung verknüpft - und damit eben auch, zugespitzt, mit dem gewaltsam herbeigeführten Tod von Menschen.

Huntsville liegt eine Autostunde nördlich von Houston und ist Zentrum des Walker County, eines Landkreises, in dem insgesamt 56 000 Bürger unter sehr unterschiedlichen Wohnbedingungen leben. Für 28 000 von ihnen gibt es Häuser mit Vorgärten und anderen Attributen einer gutbürgerlichen Existenz. Weitere 13 000 sind Studenten, die den Campus der Sam Houston University bevölkern, einer Hochschule von beträchtlichem Renommee, besonders, natürlich, im Fachbereich Kriminaljustiz. Und 15 000 hausen temporär oder lebenslänglich in Gefängniszellen. Sechs Units, Gefängniskomplexe, umrahmen die Stadt. Betrachtet man sie aus einiger Entfernung, sehen sie wie die schmucklosen Flachbauten von Industriebetrieben aus, in denen, so könnte man mutmaßen, wertvolle Güter hergestellt werden, weshalb zum Schutz vor Eindringlingen Gitterzäune errichtet wurden. Die siebte und älteste Haftanstalt, die Ur-Zelle der Huntsviller Gefängnisse, jene, die mitten in Downtown liegt, sieht anders aus und heißt nicht ohne Grund Walls Unit. Sie ist eine braunrote Backsteinfestung mit haushohen Mauern und hat auch schon als Kulisse für Hollywoods Gefängnisfilme gedient. Im eigentlichen aber ist sie eine Schleusenstation für die Häftlinge der sechs anderen Units. Hier werden sie in die Freiheit entlassen. Oder in den Tod geschickt. Auf die Exekution in der Walls Unit warten derzeit nicht weniger als 447 Todeskandidaten.

Die Delinquenten werden aus dem ganzen Bundesstaat Texas angeliefert, ebenso wie alle anderen Häftlinge: die Gangster, die im gesonderten Hochsicherheitstrakt neben der Ellis Unit untergebracht sind, die Sextäter, die ihre Bleibe ironischerweise im früheren Frauengefängnis haben, und genauso die älteren, eher harmlosen Kriminellen, für die es eine Haftanstalt mit deutlich niedrigeren Zäunen und von offenbar derart blitzender Sauberkeit gibt, daß Leigh-Anne Gideon darüber ins Schwärmen gerät.

Bewußt war die Stadt im letzten Jahrhundert zum Zentrum des texanischen Strafvollzugs gemacht worden, und zwar als ein Geschenk des damals jungen Staates. Oder genauer: als Entschädigung dafür, daß das mit Huntsville rivalisierende Austin zur texanischen Hauptstadt auserkoren wurde, obwohl Huntsville darauf ebenfalls Anspruch gehabt hätte. Denn Huntsville war Sam Houstons Stadt - die Stadt des Vorkämpfers und Gründungsvaters des heutigen amerikanischen Bundesstaats Texas, der zuvor in mexikanischen Händen war. Schlecht ist die Stadt nicht gefahren mit der Entschädigung für verlorene Hauptstadtwürden. Die Gefängnisse erwiesen sich als eine sprunghaft wachsende Industrie, die heute zwei Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung im Landkreis ins Brot setzt, nie eine Rezession erlebt hat und, wie es aussieht, in absehbarer Zeit auch keine erleben wird - glückliches Huntsville.

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