Das Weiße Haus in Washington:Die erste Adresse der Macht

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1600 Pennsylvania Avenue: Die Fassade ist unscheinbar, aber dahinter entscheiden US-Präsidenten über das Schicksal der Welt.

Von Wolfgang Koydl

Washington - Die größte Macht der Weltgeschichte hat eine feste Adresse komplett mit Postleitzahl und Hausnummer, und Concepcion Picciotto wohnt schon lange unter dieser Anschrift: 1600 Pennsylvania Avenue, Washington, DC 20008.

Zentrum der Macht: Das Weiße Haus in Washington (Foto: Foto: dpa)

Viel länger lebt sie hier als ihre Nachbarn, Langzeitmieter wie Ronald Reagan und Bill Clinton eingeschlossen. Denn sie mussten nach spätestens acht Jahren die weiße Villa im Herzen von Washington für einen Nachfolger räumen, derweil Picciotto auf der gegenüberliegenden Seite des stählernen Zaunes vor dem Weißen Haus weiter ihre Dauerwache abhält - seit nunmehr 23 Jahren.

Concepcion Picciotto ist ein Symbol absoluter Machtlosigkeit im Schatten absoluter Macht. Ebenso tapfer wie vergebens demonstriert sie für Frieden und Abrüstung, gegen Krieg und Atomwaffen - 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.

Wenn es nach ihr ginge, dann hätte sie schon bald einen neuen Nachbarn. Denn George Bush mag sie nicht, er ist ein Lügner, steht auf dem Button, den sie an der Brust trägt, und dass er ein Kriegstreiber sei, sagt sie ungefragt dazu.

Schon vier Präsidenten der USA hat sie von ihrer Warte vor dem Weißen Haus kommen und gehen sehen, seitdem sie an einem warmen Sommertag des Jahres 1981 hier mit Zelt und Transparenten ihr Lager aufschlug.

Nur eines hat sich nicht verändert: der Blick aufs Weiße Haus, jenes nur anscheinend so unscheinbare Herrenhaus, wo die Weltmacht ihr Zuhause hat und von wo aus die Macht über die ganze Welt ausgeübt wird.

Nation, die sich an ihren Symbolen berauscht

In einer Gesellschaft wie der US-amerikanischen, die so reich ist an Symbolen und die sich mehr als andere Nationen an ihnen berauscht, ist dieses Gebäude der wohl machtvollste Mythos. Denn in ihm bündelt sich nichts anderes als der zu Stein gewordene Mythos der Macht.

Jeder Präsident der Vereinigten Staaten, mit Ausnahme des Republikgründers George Washington, hat hier gelebt und gearbeitet, seitdem John Adams am 1. November 1800 in den nur teilweise fertiggestellten, zugigen, kalten und feuchten Neubau einzog.

Die widrigen Umstände freilich taten seiner Begeisterung keinen Abbruch. "Mögen stets nur ehrliche und weise Männer unter diesem Dach regieren", notierte er in sein Tagebuch, nachdem er die erste Nacht in der neuen Regierungszentrale des jungen Staates zugebracht hatte.

Dieser fromme Wunsch ist zwar unerfüllt geblieben; doch immerhin ist die schneeweiße Villa inmitten der gepflegten Parkanlage zu einem Symbol geworden für Amerika, für seinen moralischen und imperialen Anspruch.

Ort, der die Menschen verändert

Das Haus in der Stadt am Potomac River ist freilich ein Symbol nicht nur der Macht sondern auch der Ohnmacht, der Machtvollkommenheit ebenso wie des Machtmissbrauchs.

Es ist ein Ort, der die Menschen verändert; nicht nur jene, die von hier aus die Geschicke des Landes und der Welt bestimmen, sondern auch jene, die für die mächtigen Präsidenten arbeiten. "Potomac-Fieber" nennt man dieses Anschwellen der Arroganz, und noch die niederste Telefonistin fühlt etwas von dem berauschenden Aphrodisiakum der Macht, wenn sie die schlichten Worte sagt: "Hier spricht das Weiße Haus."

Das Weiße Haus steht stellvertretend für die Institution der amerikanischen Präsidentschaft. Man spricht zwar vom "Bush White House" und vom "Clinton White House", doch die Betonung liegt immer auf dem Haus.

"Gebäude können nicht wollen"

"Sag nicht: 'Das Weiße Haus will'", hatte einmal Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seinen Untergebenen eingeschärft. "Gebäude können nicht wollen."

Doch hier irrte der analytische Denker und Routinier der Macht. "Das Weiße Haus hat angerufen und will, dass Sie nach Cleveland fahren", wurde Clintons Arbeitsminister Robert Reich mitgeteilt. "Häuser telefonieren nicht, wer hat angerufen?", blaffte Reich zurück. "Ich fahre nicht." Reich erfuhr nie den Namen des Mitarbeiters, aber natürlich fuhr er nach Cleveland.

Versailles wurde für einen König auf Lebenszeit gebaut; in Pekings verbotener Stadt herrschten die Kaiser bis zum Tode. Doch das Weiße Haus kann niemand auf Dauer besitzen.

Wer hier amtiert, der wohnt hier nur zur Miete - im Höchstfall zweimal vier Jahre. Es ist eine Erinnerung daran, wie vergänglich die Mühen auch des mächtigsten Präsidenten sind und dass nur die Institution überdauert.

"Ich möchte gerne wissen, wer dort eigentlich wohnt", wurde Präsident Calvin Coolidge, der von 1923 bis 1929 Präsident war, einmal gefragt. "Niemand", antwortete er. "Sie kommen und gehen."

Coolidge war der letzte Präsident, der das Wort vom Weißen Haus als einem "Haus des Volkes" noch wörtlich nahm. Wie beinahe alle seiner Vorgänger stand er fast täglich in der Lobby des Hauses und schüttelte die Hände von Passanten, die von draußen hereinspaziert waren, um ihrem Präsidenten beim Regieren über die Schulter zu schauen.

Diese Unschuld verlor das Weiße Haus mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg; seitdem hat die Öffentlichkeit keinen ungehinderten Zutritt mehr.

Heute erschweren Betonsperren, Sichtschutzblenden und spanische Reiter Zugang und Blick auf das wohl meist fotografierte Gebäude der Vereinigten Staaten. Obwohl sich hier, im Angesicht der Macht, alle ablichten lassen wollen - der Stahlarbeiter aus Pennsylvania und der Einwanderer aus Paraguay, der Austauschstudent aus Polen und der Professor von den Philippinen.

Keine turmhohen Mauern und Zinnen

Sie alle sind zunächst erstaunt, wie klein der Sitz des Präsidenten der Weltmacht eigentlich zu sein scheint. Keine turmhohen Mauern und Zinnen umragen ihn wie den Kreml; kein güldener Prunk blendet wie beim Elysée-Palast; keine schieren grauen Betonfassaden erdrücken den Betrachter wie beim Bundeskanzleramt.

Eine unscheinbare Kate ist das Weiße Haus zwar auch nicht - mit 132 Räumen, 32 Badezimmern, 413 Türen, sieben Treppenhäusern, mit Kinosaal, Swimmingpool, Tennisplatz und Bowlingbahn. Aber dennoch strahlt es die zeitlose Eleganz und Leichtigkeit einer Stein gewordenen Mozart-Sinfonie aus.

Angriff auf das Herz der Nation

So positiv sahen freilich nicht alle Amerikaner zu allen Zeiten den Amts- und Wohnsitz ihres obersten Repräsentanten. Kritik regte sich vor allem zu jener Zeit, als das neue Haus des Präsidenten in der neuen Hauptstadt des neuen Staates auf Bauplänen feste Gestalt anzunehmen begann.

"Groß genug für zwei Kaiser, einen Papst und den Groß-Lama", bemäkelte beispielsweise Thomas Jefferson die Entwürfe. Es ist nicht auszuschließen, dass gekränkte Eitelkeit bei diesen Worten mitschwang.

Denn beim Ideen-Wettbewerb hatte sich auch der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung als Anonymus unter dem Kürzel A.Z. beworben. Der Entwurf des begabten Architektur-Dilettanten unterlag jedoch den Plänen eines einfachen irischen Baumeisters mit Namen James Hoban.

Der war es auch, der das Weiße Haus erneut aufbaute, nachdem es von britischen Truppen 1814 niedergebrannt worden war. Es war das einzige Mal, dass das Herz der amerikanischen Nation zerstört wurde. Erst 187 Jahre später mussten die Amerikaner wieder um ihren heiligsten Mythos bangen, als am 11. September 2001 das vierte der entführten Flugzeuge Kurs auf die Hauptstadt genommen hatte.

Niemand weiß, welches Gebäude in Washington Ziel der Maschine gewesen wäre, wenn sie nicht von den Passagieren vorher zum Absturz gebracht worden wäre. Aber ein Schlag gegen das Weiße Haus war mehr als wahrscheinlich.

Im Jahre 1814 schweißte die Zerstörung des Hauses die junge Nation zusammen, die den attackierenden Briten zunächst kaum Kräfte entgegenzusetzen hatte.

Denn schon damals empfanden die Amerikaner den Sitz ihres Präsidenten als potentes Symbol für ihren Staat. Viel weniger Aufmerksamkeit schenkte diese Nation freilich dem Gebäude selbst.

"Große weiße Scheune"

Der Kongress erwies sich als geiziger Vermieter, der den diversen Präsidenten oft nur widerwillig Mittel für den Unterhalt des Hauses bewilligte. Dass das Haus überhaupt noch steht, ist zwei Präsidenten zu verdanken, die unterschiedlicher nicht sein konnten: dem megalomanen Mega-Macho Teddy Roosevelt und dem brav bebrillten Bankangestellten Harry Truman.

Als Roosevelt 1901 die Residenz bezog, da kringelten sich die Tapeten von den Wänden; Teppiche und Böden waren bräunlich-schwarz gefleckt von Generationen Tabak kauender und spuckender Männer.

Als "große weiße Scheune" hatte Mark Twain das Gebäude damals verspottet: "hässlich genug von außen, aber düster, billig und von schlechtem Geschmack von innen".

Blick auf den Rosengarten

Roosevelt krempelte die Ärmel hoch: Er ließ die Gewächshäuser abreißen, die an der Westseite des Gebäudes entstanden waren, und an ihrer Stelle einen brandneuen Büroanbau errichten: den West Wing, wo sich seitdem die Arbeitszimmer des Präsidenten und seiner engsten Mitarbeiter befinden.

Erst Roosevelts Nachfolger Howard Taft freilich wünschte sich ein ovales Büro, und erst der zweite Roosevelt an der Spitze der USA befreite das Oval Office aus dem fensterlosen Inneren des Westflügels: Franklin D. Roosevelt wollte hinausblicken auf den Rosengarten, und alle seine Nachfolger werden ihm diese Entscheidung vermutlich gedankt haben.

Klavier durch die Zwischendecke

Die Baustruktur des Weißen Hauses selbst ließ Bauherr Teddy Roosevelt freilich unangetastet, was sich bei den Trumans Ende der vierziger Jahre mit einigen Beinahe-Katastrophen bemerkbar machte. Nachdem ein Klavier teilweise durch eine Zwischendecke gebrochen war, ordnete Präsident Truman eine Generalüberholung an.

Zum ersten Mal wurden Holzpfeiler vom Anfang des 19. Jahrhunderts durch moderne Stahlträger ersetzt. Drei Jahre lang, von 1948 bis 1951, wurde die junge Weltmacht Amerika vom Blair House aus regiert, einem bescheidenen Bürgerhaus auf der anderen Seite des Lafayette-Parks, einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt.

In diesem Park füttert Concepcion Picciotto die Eichhörnchen, wenn sie nicht gerade Flugblätter an Touristen verteilt. Es stört sie nicht, dass es ihr nie gelingen wird, den Krieg vom Angesicht der Erde zu verbannen.

Denn sie hat selbst erfahren, dass auch der Macht ihres Nachbarn an der Pennsylvania Avenue Nummer 1600 Grenzen gesetzt sind. "Ich habe gesehen, wie Männer hier auf einer Bank in einer kalten Winternacht erfroren sind", erinnert sie sich, "und der Mann da drüben konnte auch nichts tun, um sie zu retten."

© SZ vom 26.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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