Das Wahldrama von Kiel:Torpedos von einem unbekannten U-Boot

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Der schwarze Donnerstag der Heide Simonis: Wie der Kieler Landtag mit seiner Lähmung umging.

Von Ralf Wiegand

Kiel, 17. März - Irgendwann während des dritten Durchgangs dieser quälenden, endlosen Abstimmung sind sich Anne Lütkes und Heide Simonis auf dem Weg zur Wahlkabine begegnet.

Vorbereitung zur Stimmauszählung in Kiel. (Foto: Foto: ddp)

Simonis wartete, bis sie aufgerufen wurde, Lütkes hatte ihren Stimmzettel schon in dem schweren, dunkelbraunen Holzkasten im Kieler Landtag versenkt und lief zu ihrem Platz zurück.

Es war ja eine Demütigung nach Alphabet an diesem schwarzen Donnerstag, jeder Abgeordnete des Kieler Parlaments wurde einzeln aufgerufen, seine Stimme abzugeben.

Anne Lütkes von den Grünen, die noch Justizministerin ist, nahm Heide Simonis von der SPD, die noch Ministerpräsidentin ist, in den Arm. Es sah schon da ein wenig aus wie eine Geste des Beileids.

Der Duft des Aufbruchs

Unter Lütkes' Tischchen in der ersten Reihe des Plenums lagen Blumen, die sie Heide Simonis offenbar zur Wiederwahl überreichen wollte. Ein gelber Strauß, der wie der Frühling leuchtete und nach Aufbruch duftete.

In einem Moment, in dem sie sich unbeobachtet wähnte, kurz bevor das Ergebnis des ersten Wahlgangs bekannt gegeben wurde, nestelte Anne Lütkes noch einmal an den Blüten. Sie war sich sicher, alles würde glatt gehen. Alle waren sich sicher.

Aber es ging gar nichts glatt, genauso wenig wie etwas unentdeckt bleiben konnte im gläsernen Plenarsaal von Kiel. Von der Empore des Landeshauses aus kann man alles sehen, auch traurige Blumengebinde unter Abgeordnetentischchen.

Cowboys beim Duell

Das Drama trug, wie so oft in der Politik, einen heimtückisch harmlosen Titel.

Der neue Landtag von Schleswig-Holstein musste unter Tagesordnungspunkt 4 seiner konstituierenden Sitzung über die Drucksachen 16.6.9 und 16.7 abstimmen. Das Dokument 16.6.9 lautete: "Der Landtag möge beschließen: Peter Harry Carstensen wird zum Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein gewählt."

Drucksache 16.7 dagegen: "Der Landtag möge beschließen: Heide Simonis wird zur Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein gewählt."

Kampfabstimmung nennt man so etwas, im wilden Westen hieß es einst Highnoon. Zwei Cowboys standen sich auf einer staubigen Straße gegenüber, eine Hand am Abzug ihres Colts, bereit zur finalen Lösung unüberbrückbarer Differenzen.

Zwischen Peter Harry Carstensen, 58, und Heide Simonis, 61, liegen Welten. Der große, schwere Mann vom Meer macht der zierlichen Stadtneurotikerin gelegentlich sogar Angst. "Es schüchtert sie ein, wenn jemand die ganze Tür ausfüllt", sagt ein Vertrauter der Ministerpräsidentin.

Im Plenum liegen die Plätze der "roten Heide" und des erzkonservativen Agrar-Experten aus Friesland fast exakt einander gegenüber. Sie hätten sich in die Augen schauen und gegenseitig ihre Seelen auslesen können in den historischen Momenten dieses Nachmittags.

Niemand hatte es wirklich für möglich gehalten, dass die legendäre Kieler Wahlnacht vom 20. Februar eine Fortsetzung, geschweige denn eine Steigerung der Spannung bis nahe an die Körperverletzung erfahren könnte.

Damals wechselten die Mehrheiten wie der Wind an der Küste, bis am Ende ein abstraktes Konstrukt stand, ein verwegener Plan: eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Tolerierung des SSW.

35 Stimmen hätte dieser Block, 34 die Opposition aus CDU/FDP. Für die Wahl zum Ministerpräsidenten hätte einer der Kandidaten die absolute Mehrheit in einem der ersten beiden Wahlgänge gebraucht, 35 Stimmen eben, danach hätte die einfache Mehrheit genügt.

Entlarvte Illusion

Der erste Wahlgang: 69 Stimmen, alle gültig; 34 für Heide Simonis, 33 für Peter Harry Carstensen. Zwei Enthaltungen. Das klingt so harmlos: zwei Enthaltungen. Dadurch aber war keine der beiden Drucksachen angenommen. Heide Simonis' Gesicht: maskenhaft in diesem Moment.

Peter Harry Carstensen schickte ein lautes Lachen durch den Saal wie eine Springflut. In den Reihen von CDU und FDP fehlte also auch ein Abgeordneter, aber das war ja egal. Heide Simonis' Demontage hatte begonnen.

In diesem Moment war der Beginn des Tages längst als Illusion entlarvt. Dunkle Staatskarossen hatten da im Kieler Niemannsweg vor der Pauluskirche mit laufendem Motor geparkt, Männer mit Knopf im Ohr streiften aufmerksam darum herum, und von der nahen Förde grüßte das Horn eines großen Schiffes.

Dieser Morgen atmete zwar eine angespannte Wichtigkeit, aber drinnen, in der Pauluskirche: herrliche Ruhe. Die neuen Abgeordneten des schleswig-holsteinischen Landtags versammelten sich in den ersten drei Reihen des Gotteshauses.

Die Pastorin Claudia Bruweleit sagte, sie hoffe, die Parlamentarier könnten "den Druck der letzten Wochen ablegen und eine Stunde der Stille genießen". Und dann sangen alle gemeinsam: "Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehen."

Wie andächtig Politiker sein können. Wie versunken.

Nur Stunden später waren manche um Tage gealtert. Ab dem zweiten Wahlgang hatte Carstensen wieder alle Matrosen an Bord, es stand 34:34. Auch im dritten Wahlgang hielt das Patt im Watt. Klaus Müller, der grüne Umweltminister, schüttelte entsetzt den Kopf.

Irgendjemand hat gelogen

Heide Simonis erstarrte. SPD-Abgeordnete vergruben ihre Gesichter in den Händen. Lothar Hay, der SPD-Fraktionsvorsitzende, schien zu lächeln, es war das leere Lächeln eines Fassungslosen.

Noch am Morgen dieses entscheidenden Tages hatte Hay versichert, er habe mit allen Mitgliedern seiner Gruppe gesprochen. Niemand werde von der Fahne gehen, "und bei den Grünen und dem SSW auch nicht".

Irgendjemand hat gelogen, irgendjemand täuscht seit Wochen seine politischen Freunde. Irgendeiner der 29 SPD-Abgeordneten, der vier Mandatsträger der Grünen oder der beiden Vertreter des SSW hat in allen Testläufen, die es vor der Ministerpräsidentenwahl gab, "ja" gesagt und "nein" gedacht.

Irgendeiner saß am Donnerstag, kurz nach halb drei, nach dem dritten ergebnislosen Wahlgang unter seinen Abgeordneten-Kollegen im Fraktionsbüro und schwieg. Geheime Wahl - es ist ein gutes Recht zu schweigen. "Es gibt einen Abgeordneten, der unbedingt Geschichte schreiben will", sagte Lothar Hay, bevor sich die Fraktionen zur Beratung zurückzogen.

"U-Boote gibt es gelegentlich"

Derweil saß Udo Simonis in der Cafeteria des Landeshauses, der Ehemann der Ministerpräsidentin, über die der FDP-Fraktionsvorsitzende sein Urteil schon gefällt hatte: "Es geht mit ihr nicht zu Ende. Es IST zu Ende. Wenn sie den letzten Rest von Selbstachtung behalten will, muss sie aufgeben."

Udo Simonis wirkte gefasst. "U-Boote gibt es gelegentlich", sagte er. "Und nicht immer tauchen sie auf." Das Parlament in Kiel liegt an der Förde. Gegenüber sieht man die HDW, eine Werft, die auch U-Boote baut.

Aber einfache Erklärungen wird es wohl niemals geben für diesen Tag, an dem sich das Landeshaus zum Vatikan des Nordens wandelte. "Das Parlament muss etwas anderes machen, als immer weiter zu wählen, bis weißer Rauch aufsteigt", sagte Kubicki.

So werden Päpste gewählt, aber nicht Ministerpräsidenten. Im vierten Wahlgang, den die SPD beantragt hatte, nach eineinhalbstündiger Beratung hinter verschlossenen Türen, nach einer U-Boot-Fahndung, nach Beschwörungen und Treue-Eiden - wieder 34:34.

Simonis blickte aus leeren Augen ins Nichts, in dem sich deutlich das Ende ihrer Ära abzuzeichnen begann. Im Foyer weinten die ersten Abgeordneten. Am Morgen, beim Gottesdienst, hatte auch der Erzbischof von Hamburg gepredigt.

Werner Thissen hatte den Abgeordneten auf den Weg gegeben: "Sünder sind überall, wo Menschen sind. Politiker sind auch Menschen."

© SZ vom 18.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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