Das Parteien-Dilemma:Zerfledderte Gesellschaft

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Der Politik fehlen große Visionen und damit die Fans, dafür wachsen im Internet neue Communities heran. So ist es ein politisches Mentekel, dass die CDU zur mitgliederstärksten Partei avanciert.

Dieter Degler

Für Christdemokraten vom Schlage des Generalsekretärs Ronald Pofalla muss es eine Art innerer Bundesparteitag gewesen sein. Die Christenunion, seit Gründung der Republik abonniert auf Platz zwei der Parteienrangfolge nach Mitgliedern, ist nun die stärkste politische Gruppierung des Landes.

Demonstrant vor der SPD-Zentrale in Düsseldorf (Foto: Foto: ddp)

Die SPD, historisch die Nummer eins unter den Volksparteien, schrumpft auf weniger als 530.000 Genossen. Wo sie in den Umfragen liegt, steht sie nun auch bei den Mitgliederzahlen. Auch spektakuläre Aktionen wie jetzt der Rauswurf des ehemaligen Bundesministers und Ministerpräsidenten Wolfgang Clement dürften daran nichts ändern. Genosse Trend hat sich verabschiedet.

Die numerisch historische Veränderung im Parteiengefüge ist ein gesamtgesellschaftliches Menetekel: Es schrumpft nicht nur die Sozialdemokratie, zu der einst mehr als eine Million Mitglieder zählten - auch die Union beklagt seit Jahren mehr Aus- als Eintritte und hat gerade mal ein paar hundert Beitragszahler mehr in ihren Reihen als die Konkurrenz. Ebenso geht es der katholischen und evangelischen Kirche, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden.

Für die großen Parteien mag ja noch gelten, was der ehemalige CDU-Bundesvorständler und Politikwissenschaftler Langguth glaubt: Die Große Koalition habe die Profile der Partnerparteien bis zur Unkenntlichkeit verwaschen und so Mitglieder und Sympathisanten frustriert.

Wichtiger scheint, dass in der Politik die großen, polarisierenden Visionen fehlen: Bei Adenauer war es die Bindung an den Westen, bei Brandt die Ostpolitik, bei Kohl die Idee des geeinten Europa. Schon bei Schröder war alles eine Nummer kleiner, die Agenda 2010 war schon sein bemerkenswertestes Vermächtnis. Nun soll mit Clement einer der Protagonisten des Reformkurses gehen. Für was eigentlich steht Angela Merkel?

Doch das Phänomen ist etwas größer und herausfordernder: Die Hochkulturen des dritten Jahrtausends zerfleddern, erst an ihren Rändern, dann im Kern. An die Stelle großer gesellschaftlicher Konsense treten Interessengruppen und -grüppchen. Das große Ganze fraktalisiert, der Trend geht zur Ego-Gesellschaft.

Funktioniert ein Bindungsinstrument wie Mitgliedschaft überhaupt noch?

Natürlich gibt es Gegenbewegungen. Im Internet beispielsweise wachsen Monat für Monat neue, zum Teil globale Communities heran. Doch unter ihnen dominieren die freizeitorientieren Gemeinschaften wie Youtube oder Flickr, die Ersatz für verlorengegangene Gemeinsamkeiten in der realen Welt bieten. Zu gesellschaftspolitischer Relevanz hat es bislang keine dieser Interessengemeinschaften gebracht.

Was das bedeutet? Vor allem eine gewaltige Herausforderung an administrative Systeme zur Steuerung von demokratisch verfassten Gemeinwesen. Wie müssen eine Gesellschaft und ihre Glieder verfasst sein, wenn einerseits das Misstrauen der Menschen gegenüber Großorganisationen wächst, andererseits aber eine Clearingstelle für die Interessen Aller wichtiger wird denn je?

Funktioniert - mal abgesehen von Fußballklub - ein Bindungsinstrument wie Mitgliedschaft überhaupt noch? Muss man "Partei" nicht ganz neu denken? Zum Beispiel als offenes Haus für jeden, der sich politisch artikulieren will, und sei es nur in einer Detailfrage.

Die Antworten werden kommen. Wer sie zuerst gibt, macht sich verdient - und wird politisch die Nase vorn haben.

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