D-Day:Bilanz am Strand

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Vor sechzig Jahren landeten die alliierten Truppen in der Normandie - es war D-Day. Oder: Der Krieg, an den man sich gern erinnert.

Von Ulrich Raulff

Der Strand der Normandie zwischen Cherbourg und Le Havre ist leer. Nur vor dem kleinen Küstenort Arromanches nördlich von Bayeux erinnern verstreute Relikte an die Ereignisse, die hier vor sechzig Jahren stattgefunden haben. Halb versunken und von der Flut zerschlissen liegen am Strand Reste der großen, mit Beton ausgegossenen Metalltanks, mit deren Hilfe die Pioniere der Operation "Overlord" hier einen Behelfshafen errichtet hatten. Heute muten die ehemaligen Pontons wie verlorene Stücke einer monumentalen Skulptur an, ein Werk der "Land-Art" aus den achtziger Jahren, über das die Zeit hinweggegangen ist.

Algen und Muscheln wachsen auf diesen rostigen Kästen, aber keine lebendigen Erinnerungen. Niemand, vom schrumpfenden Heer der Veteranen abgesehen, hat mehr eine Vorstellung davon, womit die Befreiung Europas von Hitler damals erkauft worden ist. Die Erinnerungen an den "D-Day" werden anderswo fabriziert, um hier konsumiert zu werden. Auf dem leeren Strand der Normandie tanzen die Projektionen.

Wer wissen will, wie dieser Strand vor sechzig Jahren ausgesehen hat, muss sich die Fotos anschauen, die die Reporter der ersten Stunde damals gemacht haben. Oder die Berichte lesen, die die Kriegsberichterstatter geschrieben haben, die hinter den kämpfenden Truppen an Land gingen. Einer der berühmtesten unter ihnen war Ernest Taylor ("Ernie") Pyle, der 1943 den Pulitzer-Preis für seine Kriegsreportagen aus dem Mittelmeerraum erhalten hatte. Ernie Pyle war immer da, wo der Krieg jung und heiß war, im Frühjahr 1943 in Tunesien, im Sommer auf Sizilien, im März '44 in Anzio.

Nur einen Tag nach D-Day geht er an "Omaha Beach", der verlustreichsten Zone der alliierten Invasion, von Bord. Sein Bericht vom Schlachtfeld am Tag nach der Schlacht beginnt im Stil einer bukolischen Promenade.

"Es war ein schöner Tag, um am Strand spazieren zu gehen. Männer schliefen auf dem Sand, einige von ihnen für immer. Männer trieben im Wasser, aber sie wussten nicht, dass sie im Wasser waren, denn sie waren tot. Anderthalb Meilen weit bin ich gegangen, immer an der Wasserlinie, den Strand unserer Invasion entlang. Es ging nur langsam voran, denn der Strand war übersät von Zeug. Das Trümmerfeld war ungeheuer und bestürzend. Neben dem Verlust an menschlichen Leben waren die Berge von Abfall und Schrott, die der Krieg hinterlässt, immer eins der beeindruckendsten Phänomene für diejenigen, die dabei gewesen sind. Alles, absolut alles kann ausgegeben werden. Und wir haben viel ausgegeben in diesen ersten Stunden auf unserem Brückenkopf in der Normandie."

Ernie Pyle kennt nicht die Melancholie des Geschichtsphilosophen auf den Trümmern Karthagos. Sein Blick ist der des Ökonomen. Block und Bleistift in der Hand, zieht er eine erste, rasche Bilanz der gewaltigen Wertzerstörung, die der Krieg bedeutet: "Auf dem Strand lagen alle Arten von zerstörten Fahrzeugen herum, Panzer, die es knapp bis auf den Strand geschafft hatten, bevor sie getroffen wurden, Jeeps, die zu staubgrauen Haufen verbrannt waren, Halbkettenfahrzeuge, die ein Granattreffer in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte, aus dem eine nutzlose Ladung von kaputten Schreibmaschinen, Telefonen und Formularen quoll... In diesem Küstenmuseum des Gemetzels türmten sich Stacheldrahtrollen und Raupenschlepper, Haufen weggeworfener Schwimmwesten und Stapel von Granaten. Im Wasser trieben leere Rettungsboote, Rucksäcke und mysteriöse Orangen... Am Strand lag genug an Männern und Material für einen kleinen Krieg. Das alles war ausgegeben und für immer weg. Aber wir konnten uns das leisten."

Sechzig Jahre nach Ernie Pyles Überschlagsrechnung findet die Invasion nur noch im Andenkenladen statt. Sie ist ein Gegenstand der Ökonomie des Erinnerns geworden, in der in den kommenden Wochen - 60 Jahre Invasion, 60 Jahre 20.Juli, 90 Jahre Erster Weltkrieg - noch einmal mit schönen Profiten zu rechnen ist. Verglichen mit den Ausgaben, die in der aktuellen Kriegsökonomie unserer Tage getätigt werden, sind freilich die Summen, die bei der Bewirtschaftung des nationalen Gedächtnisses und der privaten Sentimentalität ausgegeben und eingenommen werden, Kleinigkeiten: Sümmchen der symbolischen Ökonomie.

Der Spiegel hat eine Liste von Gründen dafür vorgelegt, dass sich die Amerikaner unserer Tage gern an jenen Krieg erinnern, der in der Landung in der Normandie seinen sichtbarsten Höhepunkt gefunden hat. Im Stil einer simplen Opposition von "damals" und "heute" werden die Tatsachen von 1944 mit der beklemmenden Wirklichkeit des Irak-Krieges von heute konfrontiert: Damals wurden die Sieger von den Europäern begrüßt, und die Deutschen ergaben sich in ihre Niederlage. Damals waren die Amerikaner die anerkannten Führer der freien Welt.

Der Sinn des Krieges

Damals war der Sinn des Krieges - gegen den "Schurkenstaat" Hitlers - unumstritten. Heute sieht das alles anders und unklarer aus. Die Erinnerung ist süß, weil die Gegenwart so bitter ist. Die Zeit der Kriege, an die man sich gern erinnert, ist längst vorbei.

Sie war auch damals schon vergangen. Der Krieg im Osten, zeitweise auch der in Italien, war nie gemacht für eine schöne Erinnerung, und der erbitterte Widerstand gegen die Wehrmachtsausstellung und gegen jede Art von Aufklärung über den von Deutschen geführten Vernichtungskrieg hat alles über seine Gedächtnisresistenz gesagt. An den Typus des D-Day-Krieges dagegen wollten sich alle Beteiligten gern erinnern, und je länger je lieber: Mit zunehmender zeitlicher Distanz wächst die Erinnerungsbereitschaft, und am Ende sind nun auch die Deutschen - nicht ganz buchstäblich, aber doch dem Geiste nach - mit im Boot.

Mitten in dem von Goebbels ausgerufenen und von deutschen Militärs verwirklichten "totalen Krieg" steht "D-Day", der Kampf um die Küsten der Normandie, für den Krieg, zu dem man hingehen konnte: ein Krieg, der noch erkennbare Fronten hatte und der fast ausschließlich von Soldaten geführt und erlitten wurde. Diese Soldaten mochten sich gegenseitig hassen, wie man den Feind, der einen mit dem Tod bedroht, eben hasst. Aber anders als die Gegner in Weltanschauungs- oder Religionskriegen verachteten sie einander nicht.

Sie behandelten einander nicht wie Ungeziefer, sondern wie prinzipiell gleichwertige Angehörige gegnerischer Truppen. D-Day, das war der Krieg, der strategisch von oben geplant und taktisch von unten geführt wurde; D-Day war der Krieg, der sich gewinnen und beenden ließ. So ist D-Day zur Chiffre für einen Krieg geworden, der sich noch bilanzieren ließ - auf dem Strand der Normandie und in den Geschäftsbüchern des Weltgeists.

Die Anschläge auf das World Trade Center, so haben Finanzleute errechnet, haben insgesamt 70 Milliarden Dollar Vermögen vernichtet. Noch weiß niemand, welche Beträge die sich anschließenden Feldzüge des "Krieges gegen den Terror" vernichten werden. Auch wenn sich Gewinne und Verluste dieses "Krieges" eines Tages ökonomisch beziffern lassen - politisch und moralisch lassen sie sich nicht mehr bilanzieren.

Spediteure des Schreckens

Nach dem elften September hat sich die Vormacht der westlichen Welt dazu hinreißen lassen, die Konfrontation mit ihren Herausforderern aus der Form einer politisch "gehegten" Feindschaft in die der absoluten und durch nichts mehr begrenzten Feindschaft zu überführen. Der Hegemon ist dazu übergegangen, den Krieg im Stil des Partisanen zu führen, er ist zu den Fuhrunternehmern des Schreckens herabgestiegen.

Wer aber die Rechtsform des gleichwertigen Kriegsgegners zerstört und sie zu "gesetzlosen Kombattanten" erklärt, entzieht der politisch-moralischen Bilanz die Basis. Die Alliierten mögen das Reich Hitlers als Schurkenstaat avant la lettre angesehen und bekriegt haben, dennoch haben sie die Truppen der Wehrmacht als gleichwertigen Gegner betrachtet und bekämpft. In seiner ungeheuren Dimension und mit der Masse seiner Verluste folgte D-Day immer noch einer Logik des Vertrags; der "Krieg gegen den Terror" folgt, wie Susan Sontag bemerkt hat (SZ vom 24. Mai 2004), dem Gesetz des Gulag.

Eines der letzten Fotos von Ernie Pyle zeigt ihn am 8. April 1945 auf Okinawa im Kreis von US-Marines. Mit ernstem, konzentriertem Ausdruck bietet der Reporter den Männern in seinem Umkreis Zigaretten an. Eine winzige Geste der Großzügigkeit; wer gewinnen will, muss ausgeben können. Man kann sich vorstellen, dass Ernie Pyle mit demselben undurchdringlichen Gesichtsausdruck auch kriegsgefangenen Japanern seine Zigaretten angeboten hätte. Aber dazu kam es nicht mehr: Zehn Tage nach der Aufnahme traf ihn auf der Insel Ie Shima die Kugel eines japanischen Scharfschützen.

© SZ vom 5.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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