Christen:Die Nächstenliebe und der Nächste

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Papst und polnische Regierung im Disput: Ist der Glaube in bewegter Zeit eine Versicherung? Oder muss er sich gerade dann aufs Verunsichernde einlassen, auf den schwankenden Boden, im Vertrauen, dass er trägt?

Von Matthias Drobinski

Zerrissen ist die Welt, warum soll das beim Weltjugendtag in Krakau in Polen anders sein? Fröhliche Jugendliche feiern und beten, der Papst fährt Straßenbahn. Polizisten mit Maschinenpistolen bewachen die Fröhlichkeit und kontrollieren die Rucksäcke der Pilger; dass Frömmigkeit nicht vor dem Terror schützt, das hat sich diese Woche erst in Frankreich gezeigt, wo die Mörder einem katholischen Priester die Kehle durchschnitten - wie es vielen Christen in Syrien und im Irak widerfuhr. Der Straßenbahn fahrende Franziskus spricht von einer "Welt im Krieg", trotzdem ruft er Polens Regierung auf, großherzig zu sein gegenüber den Geflohenen der Welt. Polens Ministerpräsidentin Beata Szydło sagt daraufhin einen geradezu religiösen Satz: "Es gibt nichts Wertvolleres als Sicherheit."

Franziskus' Antwort auf diesen Satz lautet, wenn man sein Interview im Flugzeug und seine Reden in Polen zusammenfasst: Sicherheit ist wertvoll und wichtig, das höchste Gut für einen Christen ist sie nicht. Es ist wichtiger, dass inmitten der Spiralen von Gewalt und Angst die Nächstenliebe und Barmherzigkeit nicht vor die Hunde gehen, dass in der Zeit des Terrors die Menschenwürde kein veräußerbares Gut wird, der Hass nicht die Freude am Leben nimmt. Im Grunde bringen damit Beata Szydło und Papst Franziskus die religiöse Auseinandersetzung auf den Punkt, die derzeit in ganz Europa geführt wird: Hilft in unsicheren Zeiten ein Versicherungsglaube - oder muss gerade dann ein christlicher Glaube sich aufs Verunsichernde einlassen, dem schwankenden Boden anvertrauen, im Vertrauen, dass er trägt?

"Gott ist groß!", rufen die Mörder. Was soll man da sagen?

Der Versicherungsglaube, der in diesen Zeiten ja nicht nur bei der polnischen Ministerpräsidentin mächtig ist, scheint naheliegend und realistisch zu sein: Sichere das Eigene, schotte dich ab, bereite den Krieg vor, wenn du Frieden willst. Die Religion dient dann der Nation, weil sie die Leute zusammenhält, die Bereitschaft stärkt, gegen die Bedrohung von außen zu kämpfen. Der Verunsicherungsglaube des Papstes erscheint dagegen weltfern und naiv. Denn was hilft die Nächstenliebe, wenn der Nächste einen hasst, die globale Solidarität, wenn der andere mit aller Gewalt an der Entsolidarisierung der Welt arbeitet, das Friedensgebet, wenn Lied vom Krieg ertönt? Der Tod des Priesters Jacques Hamel aus Saint-Étienne-du-Rouvray veranschaulicht diese Asymmetrie auf geradezu groteske Weise: "Gott ist am größten!" rufen die Mörder, nachdem sie den Priester getötet haben. "Ich weine zu Gott", sagt der Erzbischof von Rouen. Um dann zu sagen, dass die Antwort auf den Hass nicht sein könne, seinerseits zu hassen.

Das klingt hilflos - aber ist der Versicherungsglaube nicht spätestens in dem Moment noch viel hilfloser, wo er gestehen muss, dass er gar nicht garantieren kann, was er verspricht? Ist er nicht von jener Stunde an unglaubwürdig, in der er zugeben muss, dass auch er die Gegenwart nicht festzurren kann, dass die Bewegungslosigkeit, die er verspricht, eine gefährliche Illusion ist? Es stimmt: Mit Kerzen und Gebeten lässt sich Terrorismus nicht beseitigen, und Predigten über Nächstenliebe beeindrucken Despoten aller Couleur nur selten so, dass sie von ihrem Tun lassen. Es stimmt aber auch andersherum: Maschinenpistolen und ein mächtiger Sicherheitsapparat können keine friedliche und menschliche Gesellschaft schaffen. Dafür braucht es die Kraft der Verunsicherung, die nach dem lebenswerten Leben sucht, mutig, unverdrossen und im Vertrauen darauf, dass die Suche nicht vergebens ist.

"Ein erbarmungsvolles Herz hat den Mut, aus seinen Bequemlichkeiten aufzubrechen", hat Papst Franziskus den Jugendlichen in Krakau zugerufen. Von diesem Aufbruchsmut kann es nicht zu viel geben, wenn die Welt zerrissen ist.

© SZ vom 29.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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