Bundesverfassungsgericht:Ein Grundrecht ohne Grund und Boden

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Bisher durfte nur zur Strafverfolgung abgehört werden. Jetzt droht der wahre Lauschangriff, denn in Zukunft soll dies auch vorbeugend möglich sein. Das neue Sicherheitsdenken geht von einer absurden Logik aus. Ein Kommentar von Heribert Prantl

Das Grundgesetz lügt; und das Bundesverfassungsgericht hat nichts zu sagen. Das ist keine Polemik, sondern die bittere Wahrheit - dann jedenfalls, wenn es um das Fernmeldegeheimnis geht.

Es ist angeblich unverletzlich; aber die Sicherheitsbehörden verletzen es täglich. Es ist angeblich ein Grundrecht, aber der Politik und Praxis genügt jeder Grund, um es zu brechen.

Der Rang, der diesem Grundrecht eingeräumt wird, entspricht dem des Schildes: "Rasen betreten verboten". Und wenn das Verfassungsgericht mahnt, dass es so nicht geht, kümmert sich die Praxis nicht allzu viel darum.

Im Jahr 2002 wurden eineinhalb Millionen Menschen und mehr als 20 Millionen Telefonate abgehört. Wenn neue Pläne der Sicherheitsbehörden realisiert werden, multiplizieren sich diese Zahlen um ein Vielfaches: Bisher wurde zur Strafverfolgung abgehört.

Gesetz geht über großen Lauschangriff hinaus

Künftig soll nicht nur zur Verfolgung, sondern auch umfassend zur Vorbeugung abgehört werden - "wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen", dass die betroffenen Personen "Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden". Der Einfachheit halber sollen im Rahmen dieses vorbeugenden Abhörens auch auf die Telefone, Handys und Computer von "Kontakt- und Begleitpersonen" zugegriffen werden.

Die Voraussetzungen sind so vage, dass man stattdessen auch formulieren könnte: Jedweder Telekommunikationsverkehr kann abgehört und aufgezeichnet werden, wenn die Sicherheitsbehörden das für erforderlich halten.

In Niedersachsen und Thüringen sind solche Gesetze schon in Kraft. Andere Bundesländer, Bayern unter anderem, wollen solche Gesetze erlassen. Über das niedersächsische Gesetz wurde soeben beim Bundesverfassungsgericht verhandelt.

Wären die Verfassungsrichter nicht so höfliche Menschen, hätten sie dem niedersächsischen Gesetzgeber "Missachtung des Verfassungsgerichts" vorgeworfen. Das Gesetz geht nämlich weit über das hinaus, was das höchste Gericht im Urteil zum großen Lauschangriff zugelassen hat.

Das Gericht hat versucht, die Lauscherei an die Leine zu legen; der niedersächsische Gesetzgeber schneidet diese Leine durch. Sein Gesetz ist der Prototyp einer Gesetzgebung, die sagt: Wir warten, um in Grundrechte einzugreifen, nicht auf einen Verdacht hin; es genügt der Vor-Verdacht; und wir greifen nicht nur auf den zu, der verdächtig ist, sondern auch auf den, der verdächtig werden könnte.

In diesem Stadium schützt den abzuhörenden Arzt, Pfarrer oder Anwalt kein Zeugnisverweigerungsrecht. Das entfaltet erst dann seine Kraft, wenn es einen Verdacht gibt. So werden Maßnahmen, die bei der Strafverfolgung streng reglementiert sind, bei der Verfolgungsvorsorge oder Gefahrenvorbeugung ohne weiteres möglich.

Das neue Sicherheitsdenken geht also von einer absurden Logik aus: je geringer der Verdacht, umso geringer die Rechte des Bürgers. Das läuft darauf hinaus, dass, wenn es keinen Verdacht gibt, der Bürger sich alles gefallen lassen muss.

© SZ vom 17.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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