Bundestag:Spiralen entlang der schwarz-roten Linie

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Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Haushaltsdebatte mit ihrer zweiten wichtigen Rede den sehr verschiedenen Erwartungen gegenübertritt.

Christoph Schwennicke

Es gibt viele gute Gründe, diesen Beruf zu lieben, dieser lange Freitagmorgen auf der Tribüne des Bundestages ist es zunächst lange nicht. Das Wort des Berliner Feuilleton-Großmeisters Alfred Polgar ruft sich in Erinnerung, der im Anschluss an eine langatmige Theateraufführung schrieb: "Als ich um elf auf die Uhr sah, war es erst halb zehn..."

Mit großen und kleinen Gesten am Rednerpult: Angela Merkel. (Foto: Foto: dpa)

So durchlebt man von neun Uhr an eine Menge, bis genau um 11.02 Uhr an diesem Morgen: einen redlichen Oppositionsredner Wolfgang Gerhardt von der FDP, der sich mit dieser Rede von der großen Bühne als Fraktionschef verabschiedet;

einen CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer, der die Vermutungen bestätigt, er sei kein großer Redner; sowie einen Linkenchef Oskar Lafontaine, der zurückgreift bis auf den "Jugoslawien-Feldzug" und höhere Steuern fordert, besonders für Reiche.

Man übersteht den Grünen Fritz Kuhn, der einmal überkompensiert und von der "Bürgerinnenversicherung" spricht, und außerdem einen SPD-Abgeordneten namens Hubertus Heil, der, im Nebenberuf immer noch neuer SPD-Generalsekretär, ein achtbares parlamentarischen Entrée hinlegt.

Wichtig wird es um 11.02 Uhr. Weil die Bundeskanzlerin ihre erst zweite wichtige Rede im Bundestag hält, es ist die erste nach der Schonzeit. Weil da hohe Erwartungen sind im Saal, sie sitzen förmlich vor ihr, diese Erwartungen.

"Im parlamentarischen Leib der CDU hat das Grollen angefangen"

Es ist Haushaltswoche in Berlin, und am Mittwoch ist immer der Kanzleretat an der Reihe, traditionell Anlass zum politischen Rundumschlag. Diesmal besonders. Der Auftritt von Kanzlerin Angela Merkel gleicht dem der Vorstandsvorsitzenden eines Unternehmens vor der Hauptversammlung der Aktionäre: Die wollen etwas hören - die glühenden Anhänger des Unternehmens sowieso, die kritischen Aktionäre erst recht.

Alle haben ihr Kapital in dieses Unternehmen gesteckt, das in diesem Fall große Koalition heißt. Sie wissen nicht, ob sie in eine Luftblase investiert haben, sie wissen nicht, ob die Fusion von Union und SPD so weise war und ob sie sich am Markt durchsetzt.

Die beiden großen Fraktionen in der Mitte des Saales, auf die Merkel nun um 11.02 Uhr direkt blickt, sind ihr eigentliches Problem. Das Kabinett läuft gut, schwarze und rote Minister achten einander, aber da unten, da sitzt der Widerstand, der Argwohn, der Unmut. Nicht nur bei den Abgeordneten der SPD-Fraktion, auch bei denen der Union, in deren parlamentarischem Leib hat das Grollen und Grimmen angefangen.

Bei einem Satz sind sie sich einig: "Jetzt muss sie mal was bringen"

Sie wissen nicht, was ihre Kanzlerin will, sie bekommen ihre reine Lehre von vor der Wahl nicht in Übereinstimmung mit ihrer Rede nach der Wahl. Sie wissen nicht, wie die Gesundheitsreform bei den unterschiedlichen Ansätzen etwas werden soll, übrigens noch am selben Abend im Kanzleramt.

Da wollte die berühmte Siebener-Runde der Großen ohne die zuständige Ministerin zu Rate sitzen. "Fragen Sie mich was Leichteres" - "Wenn ich das wüsste, würde ich im Zirkus auftreten" - das sind die Antworten, die man auf Fragen danach bekommt.

Nur bei einem Satz sind die Herrschaften immer sehr klar: "Jetzt muss sie mal was bringen." Als die Kanzlerin ans Pult tritt, bleibt der Beifall in der großen Koalition ziemlich sauber gespalten: Hier die klatschenden Unionisten, dort die SPD, bei der sich die eine oder andere Hand regt, aber auch viele Arme verschränkt sind. Eine ziemlich kühle Atmosphäre, auf die die Kanzlerin da trifft.

Angela Merkel behilft sich mit einem uralten Trick. Ihrer Rede voran stellt sie gewissermaßen eine gemeinsame religiös-säkulare Andacht zu dem Umstand, dass der verfolgte Konvertit in Afghanistan nun doch nicht mit dem Tode bestraft wird. Da freut sich der Christdemokrat und klatscht der Menschenrechtler im Sozialdemokraten, auch in FDP und der Linken breitet sich Beifall aus.

Merkels rhetorischer Schneckenplan schraubt sich kreisförmig über den Kongo und den Bürokratieabbau endlich zu den Stellen vor, auf die sie gewartet haben. Zusammenzucken muss Vizekanzler Franz Müntefering innerlich (äußerlich ist er selbst nach seinen Maßstäben sehr starr), als seine Kanzlerin wieder das von ihm so ungeliebte Wort von der "zweiten Etappe", die anstehe, ausspricht und über die erste sagt: "Es reicht nicht. Es reicht mir nicht. Es reicht der Koalition nicht. Es reicht für Deutschland nicht."

Als sie spaßeshalber sagt, die Debatte über den Föderalismus habe sie manchmal glauben lassen, manche wollten ein Berliner Schulministerium, ruft Merkel ungebetene Geister wach: "Ganz ruhig, gaaaanz ruhig!", bändigt sie da die Reihen wie der Kutscher das durchgehende Pferd.

Um 11.41 Uhr wird es richtig spannend. "Lassen Sie mich ein Wort zum Kündigungsschutz sagen", sagt Merkel, und es wird ruhiger. Dazu muss man wissen, dass ihr Vizekanzler in einem etwas unfreundlichen Akt in den Tag hinein schon ein Wort zum Kündigungsschutz gesagt und damit der Union klar gemacht hat, dass die SPD nicht den Begehrlichkeiten nach Aufweichung nachgeben werde.

"Lasst uns doch mal das machen, was wir uns vorgenommen haben"

Politik ist auch immer eine Frage des Timings. Außerdem ist das Thema, wie man aus Frankreich weiß, sprengkräftig, denn auch hier haben Gewerkschafter schon mit französischen Verhältnissen gedroht. Umso mehr lohnt es nun, auf jedes Wort zu achten, das die Kanzlerin darüber verliert.

Man habe, sagt sie, "nicht die wenigste Zeit" bei den Koalitionsverhandlungen darauf verwendet und sich auf etwas geeinigt, und man solle die Verlässlichkeit des Koalitionsvertrages ernst nehmen. "Lasst uns doch mal das machen, was wir uns vorgenommen haben", sagt die Kanzlerin, und bei der SPD entweicht die Anspannung und löst sich in erleichtertem Beifall auf.

Allerdings sei denjenigen SPD-Abgeordneten, die von da nicht mehr zugehört haben, ein Blick ins Protokoll empfohlen: Sogleich nämlich wendet sich Merkel mit dem Oberkörper ihrem Vizekanzler zu und sagt sehr bestimmt, dass man Arbeitsmarktpolitik für ein Ziel mache, "über das wir uns einige sein müssen: Es müssen mehr Arbeitsplätze heraus kommen und nicht weniger." Ansonsten müsse man sich, in zwei Jahren oder so, noch mal darüber unterhalten.

Gesundheit fehlt noch. Gesundheit ist Merkels letzter Punkt. Sie legt Wert darauf, dass sie nach wie vor eine Strukturreform will und kein Flickwerk. Zu Ulla Schmidt, der Gesundheitsministerin ihres Kabinetts, blickt sie, und sagt, es sei gut, wenn sich die Granden der Koalition am Abend mit dem Thema beschäftigten, weil das Thema irgendwie zu kompliziert für die Fachpolitiker sei.

Und wo ist eigentlich Wolfgang Bosbach?

Frau Schmidt solle es deshalb als "Unterstützung" betrachten, dass sie am Abend nicht dabei sei. Frau Schmidt reckt da tapfer das Kinn und täuscht ein Nicken an. Der Beifall bleibt am Ende von Merkels Rede einigermaßen gespalten entlang der schwarzroten Demarkationslinie.

Und wo ist eigentlich Wolfgang Bosbach, der Unionsabgeordnete, der vielleicht nicht ohne Hintersinn mit einer kleinen Einlage morgens um neun den später von FDP-Mann Gerhardt gesagten Satz versinnbildlichte, es sei nicht wahr, dass es keine Mehrheit für eine reformorientierte Politik gebe. Galant hatte er der Grünen Claudia Roth seinen Arm gereicht, die sich einhakte und an Bosbachs Arm den Saal betrat und sich für ein paar Minuten mit ihrem CDU-Galan bei der FDP festschwatzte.

© SZ vom 30.03.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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