Bundespräsident und Kanzlerwahl:Sie oder er oder wer?

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Gerhard Schröder will Kanzler bleiben, Angela Merkel will es werden. Ob der Amtsinhaber, die Kandidatin oder ein Dritter der nächste Regierungschef sein wird, ist derzeit völlig ungewiss. Wie schon bei der Neuwahl rückt wieder Bundespräsident Horst Köhler in den Blickpunkt.

Helmut Kerscher

In der Datenflut der Bundestagswahl ist die Zahl 63 bisher kaum beachtet worden. Sie wird jedoch die Diskussionen der nächsten Wochen prägen. Denn der Artikel 63 des Grundgesetzes mit dem Titel "Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers" enthält die Regeln für den Machtkampf um das Kanzleramt.

Und mit dem am frühen Wahlabend überraschend erklärten Anspruch von Gerhard Schröder auf Fortsetzung seiner Kanzlerschaft ist klar geworden, dass es auf diesen bisher wenig beachteten Artikel 63 ankommen wird.

Danach hat bald ein Akteur das Sagen, der schon die Neuwahl angeordnet hatte: Bundespräsident Horst Köhler. Nur er kann zunächst vorschlagen, wen der Bundestag - ohne Aussprache - zum Kanzler oder zur Kanzlerin wählen darf. Köhler hat dabei, rein rechtlich, freie Hand. Er kann jeden wählbaren Deutschen vorschlagen, ist also keineswegs auf Abgeordnete wie Angela Merkel oder Gerhard Schröder beschränkt.

So wurde 1966 der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger zum Kanzler vorgeschlagen und gewählt. Erst recht nicht ist Köhler an die Führung der stärksten Fraktion oder der stärksten Partei gebunden. Er wird freilich für seinen Vorschlag im Interesse des Staates, seines eigenen Ansehens und der oder des Vorgeschlagenen erst einmal den Verlauf der Gespräche zwischen den Parteien abwarten.

Schröder könnte zunächst kommissarisch im Amt bleiben

So hieß es denn auch am Montag aus dem Bundespräsidialamt, Köhler wolle sich vorerst nicht einschalten. Aus heutiger Sicht ist offen, ob er CDU-Chefin Merkel oder Kanzler Schröder oder eine dritte Person vorschlagen wird.

Das Grundgesetz schreibt lediglich vor, wann das Amt des Kanzlers "endigt" - nämlich mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages, was spätestens am 30. Tag nach der Wahl geschehen muss. Diese Frist beginnt nach Meinung von Experten am 18. September, dem Tag der "Hauptwahl", und nicht erst am 2. Oktober, dem Tag der Nachwahl in Dresden.

Scheitert Mitte Oktober im neuen Parlament die Wahl eines neuen Kanzlers mangels absoluter Mehrheit, bleibt Schröder auf "Ersuchen" des Bundespräsidenten bis auf weiteres kommissarisch im Amt.

Zugleich beginnt dann eine von der Verfassung auf 14 Tage befristete zweite Wahlphase. So lange hat der Bundestag Zeit, um ohne Hilfe des Bundespräsidenten aus mehreren Kandidaten einen Kanzler oder eine Kanzlerin zu suchen. Auch in dieser Phase ist die "Kanzlermehrheit", also die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags erforderlich.

Nach dem vorläufigen amtlichen Wahlergebnis (ohne Dresden) wären also 307 Stimmen nötig. Die Fachleute sind sich einig, dass der Bundestag in diesen 14 Tagen "beliebig viele Wahlgänge" versuchen darf - oder auch untätig bleiben kann, worauf Professor Martin Oldiges verweist. Hätte beispielsweise eine

vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidatin Merkel im ersten Wahlgang die "Kanzlermehrheit" verfehlt, könnte sie in der zweiten Wahlphase von der CDU/CSU-Fraktion erneut nominiert - oder durch einen aussichtsreicheren Politiker ersetzt - erden.

Und was ist mit Gerhard Schröder? Er könnte sowohl in der ersten Wahlphase, wenn ihn denn Köhler vorschlüge, als auch in der zweiten Phase in geheimer Wahl mit den Stimmen von SPD, Grünen und der Linkspartei die absolute Mehrheit erreichen.

Karussell von Neuwahlen

Möglicherweise müsste er aber auf die dritte, "unverzüglich" auf die 14-Tages-Frist folgende, Wahlphase warten: Dann genügt für die Kanzlerwahl erstmals die relative Mehrheit. Spätestens dann könnte ihm die Linkspartei - falls sie ihn vorher hätte zappeln lassen - so viele Stimmen geben, dass Schröder und nicht Merkel oder ein anderer CDU-Kandidat die meisten Stimmen bekäme.

Von der Zahl der in dieser Phase erzielten Stimmen hängt der Status des so gewählten Kanzlers ab: Hat er/sie die absolute Mehrheit, so muss der Bundespräsident sie/ihn ernennen. Bei einer nur relativen Mehrheit stünde Köhler erneut vor einer schwerwiegenden Entscheidung: Ernennung des/der gewählten Minderheitskanzlers/in innerhalb von sieben Tagen - oder eine weitere Auflösung des Bundestags.

Sechs Wochen später, vielleicht schon Ende 2005 oder Anfang 2006, könnte das deutsche Volk dann erneut an die Urnen gerufen werden. Eine solche, bisher unbekannte Aufeinanderfolge von Neuwahlen gab es bisher nur in den Albträumen von Verfassungsrechtlern. Wolf-Dieter Schenke, Prozessbevollmächtigter im jüngsten Neuwahl-Verfahren, fürchtet schon ein "Karussell von Neuwahlen".

© SZ vom 20.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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