Buch-Vorstellung:Konsens und Kommando

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Debattenkultur (v.l.): Norbert Lammert, der Historiker Heinrich August Winkler und Volker Resing, Chefredakteur der "Herder Korrespondenz". (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Parlamentspräsident Lammert veröffentlicht seine Reden und erklärt, warum freie Gesellschaften nicht konfliktfrei sein können.

Von Stephan Speicher, Berlin

Unter den Politikern der Union gehört Norbert Lammert zu den Intellektuellen. Er war Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium und kulturpolitischer Sprecher seiner Fraktion, bis er 2005, mit der Wahl zum Bundestagspräsidenten, die Rolle fand, die ideal für ihn passt. Denn Lammert redet gern und gut, frei, sicher. Wenn er zitiert, so nicht die schon tausendfach bemühten Sätze. Der Pflicht zur Überparteilichkeit, die ihm sein Amt auflädt, entspricht er offenkundig mit Freude. Die Parteilinie zu verkünden, war seine Sache nie, das widerspricht und widersprach dem ausgeprägten Individualitätsbewusstsein.

Seine Reden veröffentlicht er auch in Buchform. Vor fünf Jahren tat er es schon einmal: "Einigkeit. Und Recht. Und Freiheit - 20 Blicke auf unser Land." Eine um fünf Beiträge erweiterte Fassung ist nun gerade erschienen, "Unser Staat. Unsere Geschichte. Unsere Kultur - Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft" (Herder Verlag, 286 Seiten, 19,99 Euro). Und manches kann man wirklich auch mit Respekt und Vergnügen lesen. Eine Rede zu Europa, "Nichts, was zum Träumen anregt?" beginnt wie folgt: "Über Europa ist eigentlich alles gesagt. Alle Freundlichkeiten sind ausgetauscht, alle Unfreundlichkeiten auch. Die Erfolge sind abgefeiert. Die Niederlagen sind beinahe bewältigt. Die Errungenschaften sind konsumiert, auch archiviert." Mit einer Reihe kurzer Hauptsätze so zu beginnen, mit Rhythmus, fast mit Swing, das muss man erst einmal können.

Bücher solch prominenter Autoren werden in Berlin in kleinen Diskussionsveranstaltungen vorgestellt. Und Lammerts Verlag hatte einen dem Autor gleichrangigen Gesprächspartner eingeladen, den Historiker Heinrich August Winkler. Winkler nannte das Buch Lammerts "intellektuell herausfordernd", was man nicht von allen Büchern Berliner Politiker sagen könne. Besonders rühmenswert erschien ihm dessen Institutionenvertrauen, das sich so vernünftig abhebe von der unter Deutschen verbreiteten Einstellung, dem Parlament, der Politik, den Parteien tief zu misstrauen und zugleich doch alles vom Staat zu erwarten.

Aus solchem Institutionenvertrauen heraus waren Winkler und Lammert sich auch einig in ihrer Skepsis der direkten Demokratie gegenüber. Hier fehle es an zwei für die Demokratie wichtigen Voraussetzungen: der Identifizierung politischer Verantwortung und der organisatorisch verfestigten Nötigung zum Kompromiss. Winkler zitierte seinen Lehrer, den großen Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel: "Ein Volk, das seinem Parlament nicht die Fähigkeit zur Repräsentation zutraut, leidet an einem demokratischen Minderwertigkeitskomplex."

Interessant an Lammerts Buch: Man liest, was konservative Politik heute meinen kann: Nicht etwa eine natürliche Vorliebe zur Machtstaatlichkeit nach innen und außen und auch nicht eine Verteidigung althergebrachter Hierarchien. Wohl aber Vorsicht gegenüber den Versprechungen politischer Gestaltungsfreiheit. Es sind, so Lammert, die politischen Entwicklungen "durch Geschichte und Natur konditioniert" - was er mit Natur meinte, führte er nicht aus -, das werde regelmäßig unterschätzt.

In seiner Rede über den "Patriotismus einer Zivilgesellschaft" hat er das ausgeführt. Eine freie Gesellschaft könne nicht konfliktfrei sein. Aber Konflikte brauchten Muster, nach denen sie auszutragen sind. "Es handelt sich dabei nicht um ein für alle Mal festgeschriebenes System von Gemeinsamkeiten, sondern um eines, das sich ständig fortschreibt, im Wechsel der Generationen und im Wechsel der Menschen, die auf einem Territorium miteinander leben." Um so etwas wie einen Volksgeist soll es also ausdrücklich nicht gehen. Wer zuwandert, macht mit. Aber es gibt für Lammert Gemeinsamkeiten, die den Konflikten vorausgehen. Sie haben sich historisch aufgebaut und sind durch Regulative, die für jeden akut auftretenden Fall neu und frei verhandelbar wären, offenbar nicht ersetzbar.

Diese Annahme eines indisponiblen Restes wird man konservativ nennen. Und Lammert bekennt sich ausdrücklich dazu. Den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft hält er für die Voraussetzung ihrer Freiheitlichkeit: "Nur autoritäre Gesellschaften brauchen keinen Konsens. Sie ersetzen durch Kommandos, was an Gemeinsamkeit, an gefühlten und akzeptierten Verbindlichkeiten in einer Gesellschaft entweder nicht vorhanden ist oder nicht geduldet werden soll."

© SZ vom 27.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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