Bosnien:Im Land der schlafenden Bomben

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Kampf gegen einen unsichtbaren Feind: Mehr als eine Million Minen aus der Zeit der Jugoslawien-Kriege liegen noch im Boden begraben - die Räumung wird Jahrzehnte dauern.

Von Marc Hoch

Mitten durch die Gärten verläuft die Todeszone in Vogosca, einem Vorort von Sarajewo. Rote Schilder mit weißen Totenköpfen warnen vor der Gefahr, die heimtückisch und lebensbedrohlich ist: Minen! Ein Großteil des Vorortes, der wunderschön an einem Hang liegt, soll mit der hässlichen Hinterlassenschaft des Krieges verseucht sein. Grundstücke sind unpassierbar, selbst in einigen Häusern liegen die Schläfer-Bomben versteckt, die bei geringstem Kontakt explodieren. Jeden Morgen müssen Kinder einen speziell gekennzeichneten Weg nehmen, weil auch das Schulgelände vermint ist.

Der Tod lauert überall in Bosnien-Herzegowina. Fast zehn Jahre nach dem Ende des Krieges ist das Balkanland immer noch übersät von Minenfeldern. Mehr als 1, 3 Millionen hochexplosive Sprengkörper sind noch nicht entschärft und können jederzeit Menschen Arme und Beine abreißen. Auf Äckern, Straßen, in Flüssen - überall haben die Kriegsparteien ihre Bomben in der Erde vergraben. Ein Viertel der Bevölkerung lebt nach offiziellen Schätzungen in der Nähe dieser heimtückischen Waffen. Mit 1366 betroffenen Orten ist Bosnien eines der am stärksten verseuchten Länder weltweit.

Karten des Todes

Viel unternimmt das Land im Kampf gegen den unsichtbaren Feind. Wie 142andere Staaten auch hat die gemeinsame Regierung der beiden autonomen Landesteile - die Bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska - die Konvention von Ottawa ratifiziert. Dieses Abkommen, das 1997 in der kanadischen Stadt beschlossen wurde, legt ein weltweites Verbot von Anti-Personenminen fest. Bis 2009, so das ehrgeizige Ziel, sollen die Vertragsstaaten ihre Bestände vernichtet und die verseuchten Flächen gereinigt haben.

Zumindest die erste Aufgabe konnte Bosnien schon erfüllen. Die zweite dürfte unmöglich sein: Wenn jetzt im November in Nairobi der nächste Gipfel für eine minenfreie Welt ansteht, wird die bosnisch-serbische Delegation Farbe bekennen müssen. "Wir können bis 2010 nur die unmittelbar betroffenen Gebiete reinigen", sagt Ahdin Orahovac vom Minen-Zentrum in Sarajewo, das die Minenräumung landesweit koordiniert. Dies wären 154 Städte und Dörfer mit 100.000 Menschen - nicht viel angesichts der Tatsache, dass mindestens 1,4 Millionen Menschen in Gefahrenzonen leben.

Wie eine Blutspur

Nach Schätzungen des Internationalen Roten Kreuzes in Sarajewo wird es wohl noch mindestens 70 Jahre dauern, bis die meisten Landstriche gereinigt sind. Dabei verfügt das Minen-Zentrum über geradezu unglaublich genaue Angaben, wo überall in den Kriegsjahren zwischen 1992 und 1995 Minen verlegt wurden. Nach dem Friedensabkommen von Dayton sind alle Kriegsparteien verpflichtet, ihre Karten herauszugeben. Sie werden in den flachen Bauten des Zentrums gesammelt und ausgewertet.

So kommt es, dass nicht weniger als 18.600 Minenfelder bekannt sind. Wie eine Blutspur ziehen sich ihre roten Markierungspunkte über die Landkarte.

37 Räum-Einheiten mit 2158 Mitarbeitern sind im Einsatz. Knapp die Hälfte davon sind private Unternehmen, sechs Einheiten stellt der Staat, 14 Nicht-Regierungsorganisationen (NGO). Die Minen-Räumer werden für ihren lebensgefährlichen Einsatz gut bezahlt. Sie erhalten monatlich 700 Euro - eine ganze Menge in einem Land, in dem durchschnittlich 200 Euro verdient werden.

In Vogosca, dem Vorort Sarajewos, arbeiten derzeit die Männer von "Norwegian People's Aid". Die Arbeit der 15Männer von Baco Pandvrevic ist zeitraubend. "Das Minen-Räumen dauert hier schon Jahre", sagt er und deutet auf die Grundstücke, die alle vermint sein sollen. "Mindestens zwei weitere werden wir noch brauchen." Zentimeter für Zentimeter tasten sich seine Leute in schwerer Sicherheitskleidung auf der Erde voran.

Mit nadelförmigen Metallwerkzeugen stechen sie vorsichtig in den Grund, der zuvor mit einem Detektor abgesucht wurde. Erst wenn sie auf keinen Widerstand stoßen, wird das Erdreich abgetragen. Im Falle eines Minenfundes rückt ein Spezialteam an.

Knapp 1,6 Quadratkilometer sind so in den ersten sechs Monaten dieses Jahres in Bosnien gereinigt worden - ein Sandkorn gemessen an den 2000 Quadratkilometern verseuchter Fläche. Für einen größeren Einsatz fehlt es der Regierung an Geld. Von den 37 Millionen Dollar, die 2003 für die Minenräumung benötigt wurden, stammen 30 Millionen aus internationalen Töpfen. Zwischen 250 und 324 Millionen Euro benötigt Bosnien für das Minimalziel, die besonders betroffenen Orte zu reinigen.

Die Konsequenz des fehlenden Geldes: 1510 Menschen sind seit dem Ende des Krieges auf Minen getreten. Die meisten haben sich dabei furchtbare Verstümmelungen zugezogen, 422 starben. Bis zum September gab es 31 Unfälle, zehn davon verliefen tödlich. Dass es nicht noch mehr sind, ist vor allem den Männern und Frauen in der Zentrale des Roten Kreuzes in Sarajewo zu verdanken. Sie organisieren seit Jahren eine landesweite Kampagne in den Schulen. 20Stunden Unterricht in Minen- und Sprengstoffkunde hat jede Klasse in Bosnien.

Dazu kommen die nicht gezählten Einsätze anderer NGOs, die zum Beispiel mit Puppentheatern Kinder auf die Gefahren in der Natur vorbereiten. Motto: Wenn man schon nicht alles aufräumen kann, so lässt sich doch zumindest aufklären.

Ortstermin in Klujc, einer 18.000 Einwohner großen Stadt im Nordwesten Bosniens. Die 13 Jahre alte Zarina zeigt vor einem Tischchen mit diversen Sprengkörpern, was sie gelernt hat. Mit rotem Gesicht und glänzenden Augen beschreibt sie ihren Mitschülern, wie die Minen und Handgranaten vor ihr funktionieren, und was man tun soll, wenn man eine im Wald entdeckt. Viele Mitschüler lachen, doch die Szene ist nur auf den ersten Blick komisch. In Wirklichkeit verdeutlicht diese Schulstunde, wie der Krieg fast zehn Jahre nach seinem Ende das Leben der Menschen bestimmt und noch auf Generationen bestimmen wird.

Gefahr in den Wäldern

Immerhin: Dank dieser Kampagne konnte die Opferzahl bei den Kindern deutlich verringert werden. 2004 gab es drei Unfälle in der Altersgruppe der bis 18-Jährigen gegenüber 151 im Jahr 1996. Männer dagegen sind weiterhin überdurchschnittlich oft Minen-Opfer. Aus finanziellen Gründen sind sie gezwungen, auf den Äckern oder in den Wäldern zu arbeiten, die besonders stark vermint sind.

Schutz gibt es für sie praktisch nicht: Wald- und Wiesengebiete jenseits der Zivilisation gehören für das Minen-Zentrum in die letzte Kategorie. Sie werden noch nicht einmal mit den gelben Kunststoff-Bändern gekennzeichnet, weil dafür kein Geld da ist.

Die Opfer fristen oft ein armseliges Dasein. "Der Staat versorgt uns nicht, und wir kriegen keine Arbeit", schimpft Lazo Babic. Der frühere serbische Brigade- und Korpskommandant mit dem energischen Blick hat im Krieg seinen Unterschenkel durch eine Mine verloren. Er ist einer der 600 Kriegsamputierten, die in Banjaluka, der Hauptstadt der serbischen Republik, registriert sind. Wie viele seiner Leidensgenossen nutzt er die Programme, die NGOs oder Selbsthilfeinitiativen anbieten.

Zum Beispiel einen vor zehn Monaten gegründeten Skulpturenkurs, der demnächst seine erste Ausstellung haben wird. Oder "Volleyball im Sitzen", eine Sportart, die von Minen-Opfern gerne betrieben wird. Erst in der vergangenen Woche gewann die Landesauswahl bei den Paralympics in Athen Gold.

Babic und viele andere wünschen sich, dass die Öffentlichkeit mehr Anteil an ihrem Schicksal nimmt. Wie damals im Sommer 1997, als Lady Di in Tuzla und Sarajewo mit Opfern sprach und so der US-Hilfsorganisation "Landmine Survivors Network" Auftrieb gab. Doch Bosnien droht im Schatten des Irak und Afghanistans in Vergessenheit zu geraten. "Wir haben zwar den Krieg überlebt", sagt Michelle Blatti vom Roten Kreuz in Sarajewo, "doch jetzt müssen wir auch den Frieden überstehen." Und dazu braucht das Land vor allem eins: Hilfe.

© SZ vom 6.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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