BGH hat Zweifel an Hamburger Urteil:"Die Sache ist schwierig"

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Die Freiheitsstrafe gegen den als Al-Qaida-Terroristen verurteilten Marokkaner Mounir el Motassadeq hat möglicherweise vor dem Bundesgerichtshof (BGH) keinen Bestand. Die für den 4. März angekündigte BGH-Entscheidung könnte zur Aufhebung des Urteils des Hamburger Oberlandesgerichts vom 19. Februar 2003 führen.

Von Helmut Kerscher

Der weltweit erste Prozess wegen der Attentate vom 11. September 2001 in den USA endete mit einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3000 Fällen sowie wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegen den heute 29-jährigen Motassadeq, einen engen Freund der "Todespiloten".

"Die Sache ist schwierig. Wir brauchen Zeit, um grundlegend darüber nachzudenken", sagte BGH-Richter Klaus Tolksdorf zur Begründung des ungewöhnlich späten Termins für eine Urteilsverkündung.

Kopfzerbrechen bereitete dem Bundesgerichtshof vor allem die Tatsache, dass das Hamburger Strafurteil ohne den als besonders wichtig geltenden Zeugen und mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge, Ramzi Bin al-Shibb, ergangen sei. Bin al-Shibb, der sich seit dem 11. September 2002 im Gewahrsam von US-Behörden befindet, wurde von diesen nicht als Zeuge zugelassen.

Mit Sperrvermerken verhinderten zudem das Bundeskanzleramt und das Bundesinnenministerium, dass Teile von Vernehmungsprotokollen in den Prozess eingeführt werden konnten. Schon zu Beginn der BGH-Verhandlung hatte Tolksdorf gesagt, das Gericht müsse mögliche Konsequenzen des Fehlens von Bin al-Shibb prüfen.

Verteidigung fordert Einstellung des Verfahrens

Für die Verteidiger des nicht erschienenen Angeklagten, Josef Gräßle-Münscher und Gerhard Strate (beide Hamburg), war die Konsequenz klar: Aufhebung des Hamburger Urteils und Freispruch oder Einstellung des Verfahrens.

Demgegenüber verteidigte Bundesanwalt Rolf Hannich das Urteil als rechtsfehlerfrei und sehr sorgfältig. Nach seinem Plädoyer musste er sich äußerst kritischen Fragen der Bundesrichter stellen, ob das Oberlandesgericht mit dem "schwarzen Loch" in der Beweiswürdigung richtig umgegangen sei.

Vor allem wiesen die Richter darauf hin, dass in dem Zeugen Bin al-Shibb nicht einfach ein Beweismittel gefehlt habe. Vielmehr habe "der Staat", sei es die Bundesregierung oder seien es die hinter ihr stehende USA, dafür gesorgt, dass das Gericht diesen Zeugen nicht gehabt habe, sagte BGH-Richter Walter Winkler. Damit sei dem Angeklagten auch ein möglicher Entlastungsbeweis genommen worden.

Das Oberlandesgericht habe zwar keinen Einfluss auf die USA gehabt, aber es hätte möglicherweise das Fehlen dieses Beweismittels durch erhöhte Beweisanforderungen oder durch eine Einstellung des Verfahrens kompensieren können, sagte Winkler.

Laut Verteidiger Gräßle-Münscher waren die USA wegen verschiedener Übereinkommen und Konventionen völkerrechtlich verpflichtet, den Zeugen Bin al-Shibb zur Verfügung zu stellen. Diese Argumente bezeichnete Bundesanwalt Hannich als Luftballon, das Gericht habe schließlich auf die Weigerung der USA nicht mit einer "Kriegserklärung" reagieren können.

Ohne Bin al-Shibb kein faires Verfahren

Verteidiger Strate hob die Bedeutung gerade des Zeugen Bin al-Shibb hervor. Ohne diesen könne es kein faires Verfahren geben. Er komme als einziger von den sieben Mitgliedern der Hamburger Gruppe als Zeuge in Betracht: Drei seien als "Todespiloten" ums Leben gekommen, zwei seien geflüchtet, Motassadeq sei der Angeklagte.

Was dessen mögliche Beteiligung an den Attentaten angehe, sei Bin al-Shibb also "der einzige, der es aus unmittelbarer Anschauung weiß".

Das Gericht habe nicht nur auf diesen unmittelbaren Tatzeugen verzichten müssen, sondern wegen der Sperrerklärungen von Bundesbehörden auch auf "Surrogate", nämlich auf vorhandene Unterlagen über dessen Vernehmung in den Vereinigten Staaten. In einem ähnlich gelagerten Fall habe eine US-Richterin sämtliche Beweismittel gestrichen.

(SZ vom 30.01.2004)

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