Besuch der Kanzlerin:Schnellkurs in chinesischer Kinetik

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Die Kanzlerin der kleinen Schritte war 48 Stunden im Land der großen Sprünge. In Peking und Schanghai bestaunt Angela Merkel eine Dynamik, die sie wohl gern importieren würde - der Ertrag ihrer Reise liegt jedenfalls nicht nur in Exportgeschäften.

Christoph Schwennicke

Man spürt die Geschwindigkeit nicht richtig, aber man kann sie sehen. Im Rücken der Kanzlerin schaltet eine Digitalanzeige im schnellen Wechsel zwischen den Ziffern 431 und 430 hin und her. Mehr als 400 Kilometer pro Stunde, so schnell war Angela Merkel zu Lande noch nie, und dort auch nie mit so viel kinetischer Energie aufgeladen. Es rumpelt, schunkelt und röhrt ein wenig auf den letzten Metern dieser Reise, einen dumpfen Schlag tut es, als der Gegenzug mit gleicher Geschwindigkeit vorbeizischt, dann rollt, nein: schwebt der Transrapid schon wieder aus und in den Flughafen Schanghai ein - auf Extrafahrt für die deutsche Kanzlerin. Schön sei es gewesen, bemerkt sie knapp zu der Fahrt, von der sie zu Reisebeginn gesagt hatte, dass sie sich darauf ganz besonders freue. Und beeindruckend, wie gegen diesen rasenden Roland selbst die schnellen Autos auf der parallel verlaufenden Autobahn scheinbar zum Stehen kommen.

Die Kanzlerin will, dass der Transrapid bald auch in Deutschland fährt (Foto: Foto: ddp)

Geschwindigkeit, so lehren die Fahrt und das Leben, ist eben relativ.

Die Transrapidfahrt ist also nun der Abschluss von Merkels China-Reise, sie ist aber noch mehr: Sie beendet den Reigen der so genannten Antrittsreisen der Bundeskanzlerin, mit der "zweiten ins außereuropäische Ausland", wie die staatliche Zeitung China Daily in feinsinniger Präzision und etwas künstlicher Exklusivität schreibt. Tatsächlich wird schon im Anflug auf Peking, irgendwo in der Nähe von Irkutsk, klar, dass diese Kanzlerin und ihre Regierung dabei sind, die Novizenphase abzuschließen und in eine Frühphase der Routine zu gelangen.

Die Visite leidet unter terminlicher Dichte

Denn wie soll man das anders werten, wenn Ludwig Stiegler, einer der parlamentarischen Mitflügler, über Sibiriens Luftraum sagt: "Ich verspüre nichts, weder in die eine noch in die andere Richtung", außer vielleicht, wie er als wissbegieriger Mensch sofort hinzufügt, Defizite an Kenntnissen über das große Land, in das man fliegt, sowie Bedauern über dieses Defizit. Wenn aber ein Ludwig Stiegler sagt, er verspüre nichts in einer Maschine der CDU-Kanzlerin, will das was heißen, erst recht am ersten Jahrestag der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, ein Hinweis, der wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf.

Bis zuletzt hatte SPD-Stiegler nach der verlorenen Bundestagwahl für seinen Kanzler gekämpft, Frau Merkel geschmäht und darüber fast die Kapitulation der Truppe verpasst. Dann hatte er Angela Merkel bei einer denkwürdigen Begegnung im Lift zu Zeiten der Koalitionsverhandlungen fröhlich kundgetan: "Der König ist tot, es lebe die Königin!" Es gab also durchaus Verspürungen gegenüber Frau Merkel und der CDU bei Stiegler, aber jetzt kommt sogar der fesche Peter Ramsauer von der CSU auf einen Plausch zu den Journalisten, den er beginnt mit: "Hinter mir sitzt mein Freund, mein neuer Freund Stiegler." Soll noch einer sagen, die große Koalition verändere nichts in Deutschland.

Aber das erste Interesse muss natürlich der Kanzlerin gelten und China. Dabei tritt man wohl keinem zu nahe, wenn man sagt, der Besuch wurde mit einiger Beharrlichkeit seitens der Chinesen eingefordert, oder, wie jemand aus der Delegation formuliert: "Der Besuch wurde erwartet, aber von uns dann auch freudig begrüßt." Insofern leidet die knapp zweitägige Visite unter einer gewissen terminlichen Dichte, eine von deutscher Seite ins Auge gefasste Woche war so früh nicht drin. Das Geheimnis eines Kanzlerberaters wird daher bleiben, was er meinte, als er sagte, es gehe "um ein genaues Beobachten der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in diesem Land".

So gesehen ist es ein Glück, dass Peking an diesem Montagmorgen einen für seine Verhältnisse klaren Tag verspricht. Auf der Fahrt vom Hotel zu Frühstück und Spaziergang mit Premierminister Wen Jiabao durch den Changpuhe-Park kann die Kanzlerin Eindrücke sammeln, wirklich malerisch sind sie nicht, aber imposant. Bemerkenswert an jenem Frühstück ist zunächst, dass es stattfindet, es soll eine persönliche Geste Wens für den Gast sein. Nicht ganz der Datschen-Besuch, den Zhu Rhongji Gerhard Schröder hatte angedeihen lassen, aber der hatte da schließlich schon einen heiklen Auftritt in China hinter sich, kurz nachdem Pekings Botschaft in Belgrad von Nato-Bombern versehentlich dem Erdboden gleich gemacht worden war. Als besondere Geste Wens wird wiederholt vermerkt, dass er keinen Schlips tragen werde, also alles gewissermaßen leger ablaufen soll.

Während die Kanzlerin noch eine Nudelsuppe zu sich nimmt und mit dem unbeschlipsten Wen durch den Changpuhe-Park flaniert, fällt beim Warten vor der Großen Halle des Volkes eine große, sehr lange schwarze Limousine auf, die an der Auffahrt hält. Ihr entsteigt ein eleganter, dunkelhäutiger Mann mit grauem Bart, der sich tatsächlich als Kofi Annan, Generalsekretär der UN erweist. Annan winkt ein bisschen rüber zur deutschen Abordnung, und nun rückt wieder ganz physisch in Erinnerung, dass Angela Merkel nicht zuletzt, sondern vielleicht zuvörderst mit ihren Gastgebern über Iran, dessen Atomgelüste und ein gemeinsames internationales Vorgehen sprechen muss.

Angela Merkel setzt auf das Wachstum der chinesischen Wirtschaft (Foto: Foto: AFP)

Zu der Zeit aber, als Kofi Annans Erscheinen einen Vorgeschmack auf den politischen Tag gibt, ergeht sich die Kanzlerin in Frühsport. Das jedenfalls erzählt außer Atem ein Fotograf, der aus dem Park kommt und gar nicht schnell genug das Rändelrädchen seiner Kamera bewegen kann, um die tollen Fotos zu zeigen, die er von der Kanzlerin und ihrem Gastgeber geschossen hat. Erst haben sie Menschen beim Tai Chi zugeschaut und dann so eine Art Softball gespielt, bei der es darauf ankommt, den Schaumstoffball bei aller Bewegung auf dem Schläger zu halten. Eigentlich keine schlechte Übung für die Softballspielerin der großen Koalition, die laut Bericht des Fotografen dabei so viel Spaß hat, dass sie ihm und seinen Kollegen zuwinkt wie das auf den Stufen zur Halle des Volkes Kofi Annan tat.

Die Zeit des Goldrausches ist vorbei

Lockerungsübungen im Umgang mit der Neuen aus Berlin also. Und von der heißt es, dass sie den Besuch auch nicht auf Krawall angelegt habe, schließlich sei sie noch nicht zum zehnten Mal da. Eine Handlungsreisende der Deutschland AG ist sie aber auch nicht im Sinne wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder, der seinen Erfolg bei Reisen nach China und Indien vorzugsweise in Milliarden bezifferte, jener Summe Euros, über die man im Beisein des Regierungschefs Wirtschafsverträge abschloss. Hier sei richtig was zu holen, ließ Schröder bei solchen Anlässen ganz unverhohlen vernehmen.

Die Zeit dieses Goldrausches ist offenbar vorbei, und Geschäfte werden nicht mehr um jeden Preis gemacht. So hatten die Chinesen offenbar noch bis in die Stunden, in denen Merkel schon in der Luft war, zäh verhandelt, ob für die zweite Tranche des Transrapid von Schanghai nach Hanghzou, immerhin etwa 200 Kilometer, nicht eine kleine Finanzerfrischung von mehreren hundert Millionen Euro drin sei, 100 Millionen waren unter der Vorgängerregierung für die erste Tranche überwiesen worden. Weil es das letzte Mal funktionierte, wurde es wieder versucht und durch die Blume bedeutet, dass die Begleitung für die Fahrt der Kanzlerin im Transrapid am Dienstag durchaus an dieser Frage hängen könne. So teuer wollte sie sich aber die Sitznachbarn im Zug offenbar nicht ersteigern.

Überhaupt hat sich an der Herangehensweise an dieses boomende, faszinierende Land, wenn nicht alles täuscht, etwas geändert. Statt über mehrere hundert Millionen Subvention für den Transrapid nachzudenken, setze vielmehr ein Nachdenken darüber ein, ob ein Land wie China mit einem Wachstum, von dem Deutschland nur träumen kann, noch jedes Jahr etwa 68 Millionen Euro deutsche Entwicklungshilfe erhalten muss.

Dass aber immer noch was geht an Geschäft zwischen China und Deutschland, erweist sich bei einer Zeremonie in einem Saal der Halle des Volkes. Vor einem sehr bunten und intensiven Gemälde der Chinesischen Mauer im Morgenrot haben sich die Delegationen von Frau Merkel und ihrem Gastgeber Wen aufgestellt, zu ihrer Rechten ein großes Bild von silbernen Kranichen, wie sie auch in der Kanzlerinnenheimat nördlich Berlins zu sehen sind, die sich auf goldenem Hintergrund in die Lüfte erheben.

Bei der Vorbereitung hatten die Damen der Regie wieder und wieder bedeutet: "Herr Kleinfeld bleibt auf Platz vier", so bleibt Siemens-Chef Klaus Kleinfeld dann auch stehen an seinem Stuhl, während seine Unterzeichnungspartner wechseln, bis es ihm selber erkennbar peinlich wird. Schon nach dem ersten Mal will ihm Merkel zum schönen Abschluss gratulieren, da signalisiert er, er müsse noch am Tisch mit den edlen Füllern und den Rolltrocknern bleiben. "Oh, ach so, nochmal!", entfährt es der Regierungschefin, und dann kommt noch einmal, nochmal und nochmal und nochmal. Herr Kleinfeld ist in diesen Minuten Deutschland.

Diskrepanz zwischen bräsigem Deutschland und ungeheurer chinesischer Dynamik

Schließlich sind sie und Wen Jiabao an der Reihe zu einer Pressekonferenz, zu der der Ministerpräsident erst die "lieben Freunde von der Presse" begrüßt. Manche, sagt er, hätten "Frau Merkel als Sturm bezeichnet", und wendet sich an seinen Gast: "Ich würde sagen: Sie ist ein freundschaftlicher Wind." Merkel stutzt, als das Wort Sturm fällt und beginnt ihr Statement mit dem Satz, das mit dem Sturm "müssen Sie mir noch mal erklären". Sie bezeichne sich eher als "Freund der geordneten Bewegung". Dann spricht sie die chinesischen Plagiate an, die Menschenrechte und die Notwendigkeit einer mit China abgestimmten Politik gegen Irans Atompläne. Erst lächelt Herr Wen bei allem, was Frau Merkel sagt, dann werden seine Lippen schmaler, schließlich bekommt er einen trockenen Mund und nippt am Wasserglas.

Die geordnete Bewegung, das ist irgendwo zwischen den selbstauferlegten kleinen Schritten und der Rasanz, mit der sich vor Merkels Augen die Dinge in China abspielen. Der Physikerin muss das wie Kinetik vorkommen, die Lehre von der Beschleunigung von Körpern und den resultierenden mechanischen Auswirkungen. Nichts ist hier starr, alles ist flexibel, sogar große alte Bäume setzen sich in Bewegung, wie man auf der Autobahn sehen kann: aufgeladen auf vergleichsweise winzige Laster sehen sie mit ihren wippenden Kronen von hinten so aus, als führen sie selbst zu dem Ort, an dem sie wieder eingepflanzt werden sollen. Einmal Wurzeln schlagen und immer bleiben - das gibt es nicht einmal mehr für Bäume. Merkel registriert die Diskrepanz zwischen dem bräsigen Deutschland und dieser ungeheuren chinesischen Dynamik.

Das alte Merkel-Bild von der deutschen Thatcher

Ganz so mag man es nicht haben, aber würde ein bisschen mehr davon Deutschland schaden? Jedenfalls ist es kein Zufall, dass die Kanzlerin vor der deutschen Handelskammer in Schanghai sinngemäß anmerkt, dass in dieser Stadt, in der einem Durchschnittsberliner die Kinnlade herunterfällt, es ja sein könne, dass die Planfeststellungsverfahren etwas zu schnell gingen, in Deutschland aber nicht schnell genug für diese Welt. Ein bisschen China in Deutschland, das wäre vermutlich nach ihrem Geschmack.

Im Flugzeug nach Schanghai klärt sie die Sache mit dem Sturm auf. Es gibt eine chinesische Biografie von ihr, die sie bei ihrer Begegnung mit Bürgerrechtlern überreicht bekommt. Darin wird sie als Sturm bezeichnet. Sie blättert amüsiert darin und freut sich an den vielen Fotos, die sie dafür zusammengetragen haben.

Das Buch ist seit der Regierungsbildung noch nicht überarbeitet, ihm liegt das alte Merkel-Bild von der deutschen Margaret Thatcher zugrunde, als die sie vor allem international ersehnt wurde. Aber als Kanzlerin hat Merkel ihre Kinetik Deutschland angepasst und nicht dem Tempo der Welt. Beim Abschreiten der Ehrenformation vor der Großen Halle des Volkes war übrigens zu sehen, dass sich Angela Merkel sehr anstrengen muss, um mit ihrem Gastgeber im Tritt zu bleiben. Die kleinen Schritte fallen ihr schwer, sie muss sich regelrecht zügeln, um Herrn Wen nicht zu enteilen. Ihr ganzer Bewegungsapparat, das kann man sehen, will mit weiten Schritten voran.

© SZ vom 24.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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