Berliner Chaostage:Der irre Takt der Krise

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Seit dem Neuwahl-Coup von Bundeskanzler Schröder geht in Berlin alles drunter und drüber. Politiker stehen am Rande des Nervenzusammenbruchs - und arbeiten nun alle auf eigene Rechnung.

Von Christoph Schwennicke

Berlin, 8. Juni - Um den Berliner Wahnsinn, wie er in Wochen wie diesen um sich greift, fassbar zu machen, kann man sich verschiedener Messinstrumente bedienen.

Man kann die Auftritte und Interviews etwa des stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Michael Müller pro Tag nehmen und feststellen, dass er im Moment sechs bis sieben davon schafft. Das ist selbst für den stets eloquenten Müller eine ganze Menge, also ein recht hoher Wahnsinnsfaktor.

Man kann die Zahl der Gespräche mit den diversen Menschen nehmen, mit denen man im Berliner Getümmel jeden Tag so spricht, und bemessen, in welchem Maße sich das Verhältnis von Informanten und Frager verändert.

Man ruft jemanden an, will was wissen, und findet sich alsbald in einer verkehrten Welt wieder. "Aber was hören Sie denn so?", drehen sich diese Gespräche vermeintlich harmlos und dauern dann oft lang. Sogar Aktion und Reaktion in dieser Kommunikation verschieben sich.

Man ruft nicht mehr an, man wird angerufen, von einem panischen SPD-Politiker, der Angst hat, als Heckenschütze in Verdacht zu kommen, von Grünen, die wissen wollen, was die Roten so vorhaben, und von Menschen, die im Dunstkreis von gewichtigen SPD-Politikern arbeiten und nun die Angst haben, er verglühe ohne Not in dieser Hitze des Berliner Feuers.

Ein anderes Symptom für Berliner Wahnsinn sind Absagen bestimmter Termine. Hat man etwa für Mittwochabend ein Hintergrundtreffen mit Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier im Kalender, kann man sich am Dienstagfrüh getrost schon eine andere Beschäftigung für diesen Abend suchen. Die Absage kam am frühen Dienstagabend.

Oder Wartezeiten zu verabredeten Treffen: Man weiß, es ist etwas nicht normal, wenn einen der Gesprächspartner 20 Minuten im Restaurant warten lässt und zwischendrin die Sekretärin anruft und sagt, der Herr Staatssekretär sei noch in einer Besprechung. 20 Minuten später ist viel in Berlin, das normalerweise nach dem Sekundenzeiger funktioniert.

Wie bei der Kernschmelze

Man nennt diesen Zustand Krise, es gab ihn, als Oskar Lafontaine vor sechs Jahren hinschmiss, sonst gab es in den letzten sieben Jahren keine vergleichbare Situation mehr. Es ist im Moment definitiv Großkrise in Berlin, Großhysterie mindestens.

Ein japanischer Autohersteller hat einmal den treffenden Spruch für die derzeitigen Verhältnisse gehabt: Nichts ist unmöglich. Alles ist denkbar, nichts ist definitiv.

Es laufen Prozesse ab, einer Kernschmelze gleich, die Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering mit ihrem so genannten Coup vom Abend des 22. Mai ausgelöst haben. In dieser rot-grünen Atomfabrik sind die Abläufe außer Kontrolle geraten, und die Herrn an den Schaltpulten sind nicht mehr die Herren des Verfahrens.

Weil alle alles für möglich halten und nur die wenigsten wissen, was wirklich läuft, wird alles begierig aufgenommen. Die Falschmeldung etwa, im Parteivorstand der SPD sei ernsthaft über ein Szenario gesprochen worden, dass Schröder zurücktrete und Müntefering Kanzler werde und ganz normal 2006 Bundestagswahl sei.

Kann so nicht sein, weil so etwas im Parteivorstand der SPD niemals stattfände, aber weiß man's?

Es gibt viel heiße Luft im Moment, gewiss. Die Krise hat aber auch einen ernsten Kern. Das, was einst das Kräftedreieck der seit jeher lautstarken Koalition bildete, driftet erkennbar auseinander.

Namentlich sind dies Gerhard Schröder, der Bundeskanzler, Franz Müntefering der SPD-Vorsitzende und Joschka Fischer, der Grünen-Boss. Die Lage ist so prekär, dass ihre Interessen mehr und mehr divergieren. Jeder arbeitet jetzt ein gutes Stück auf eigene Rechnung.

In der undankbarsten Rolle ist derzeit vielleicht Müntefering. Es ist atemberaubend zu sehen, in welchem Maß und in welcher Geschwindigkeit seine Machtbasis erodiert, die so betoniert zu sein schien.

Die selben Leute in der SPD, die ihn noch vor wenigen Wochen und Monaten messianisch überhöhten, sagen jetzt Sätze, die in gleicher Art in die andere Richtung überzogen sind. Als einer der schlechtesten Vorsitzenden, den die SPD je hatte, wird er plötzlich bezeichnet.

Und warum das? Weil Müntefering angelastet wird, in dem einen entscheidenden Moment, in dem er Schröder hätte widersprechen müssen, nicht widersprochen zu haben.

Deshalb wünschten sich nun viele in der SPD, man könnte doch die Uhr zurückdrehen vor den 22. Mai, 18.23 Uhr, als Müntefering faktisch die Neuwahlen ausrief.

So erklären sich die Spekulationen um Rücktrittspläne, die nun einer wie der abgehalfterte SPD-Politiker Ulrich Maurer aus Baden-Württemberg bestätigt, obwohl man sich fragt, wie er über etwas reden kann, an dem er gar nicht teilgenommen haben kann.

So erklärt sich auch, dass Spekulationen ins Kraut schießen, wonach der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck SPD-Chef und Nachfolger von Müntefering würde.

Daran ist so viel wahr, dass Müntefering, wenn er heute tot umfiele, wohl nur durch Beck ersetzt werden könnte. Beck selbst blieb nichts anderes übrig als die Flucht in die Ironie. Ja, er mache es, sagte er fröhlich: "Aber nur, wenn ich auch das Endspiel der Fußball-WM pfeifen darf."

Ruhe am Kabinettstisch

Alles Wahnsinn zur Zeit. Die Frage aber ist mittlerweile, ob dieser Wahnsinn auch Methode hat. Etwa, ob das Bundespräsidialamt, gar der Bundespräsident höchstselbst fummelt und trickst und Interna aus Gesprächen mit dem Bundeskanzler durchsticht.

In einer außerordentlichen Weise hat sich Schröder selbst an diesem Mittwoch zu dieser besonders delikaten Facette der Berliner Lage geäußert.

Er ließ im Kabinett die Tagesordnung beiseite, was er vielleicht zwei-, dreimal im Jahr tut, und hob mit einer allgemeinen Erklärung an. Zunächst einmal habe er keinen Anlass, an der Integrität und der Überparteilichkeit des Bundespräsidenten zu zweifeln.

Er sei sich ganz sicher, dass der Bundespräsident von seinem Ermessensspielraum "unvoreingenommen" Gebrauch machen werde. Des Weiteren bitte er um Verständnis, dass er weiterhin nichts über das Verfahren der Vertrauensfrage sagen könne, weil dies sonst von allen Seiten verfassungsrechtlich zerpflückt werde, bevor es soweit sei.

Er wünsche sich im Übrigen keine weitere Diskussion dazu am Tisch. "Nehmt das mal als meine persönliche Empfindung an so einem Tag, über die ich nicht weiter diskutieren möchte", sagte er noch. So herrscht an diesem Tag wenigstens an einem Ort Ruhe in Berlin.

Draußen aber geht es munter weiter. Um 12.46 Uhr quillt ein Fax aus dem Gerät, auf dem Ottmar Schreiner, der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, eine Sitzung am 26. Juni dementiert.

Zuvor hatte AfA Landeschef Heinz-Werner Schuster erklärt, eine solche Sitzung finde statt, und man wolle einen Gegenkandidaten zu Schröder aufstellen. "Wir wissen nicht, für wen der zitierte Heinz-Werner Schuster spricht. Er spricht jedenfalls nicht für die AfA, weder im Bund, noch in Nordrhein-Westfalen", tönt Schreiner.

Es dauert weitere 28 Minuten, und Schreiners Vize Frank Wenzel meldet sich im Internet: Wenn es auch "nur den Hauch einer Ahnung" gebe, dass Schröder mit der Vertrauensfrage am 1. Juli scheitere, "sollte er zurücktreten". Als Nachfolger komme nur SPD-Chef Franz Müntefering in Frage.

Es ist der Wahnsinn in Berlin, und er hat Methode.

© SZ vom 9.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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