Berlin:Leben auf Messers Schneide

Lesezeit: 8 min

Immer anders, als man denkt: Ein reicher Mann wird geduldet, eine Revolutionärin bereut, drei Mädchen aus drei Kulturen verstehen sich prima - über die erstaunlichen Wandlungen des Stadtteils Kreuzberg.

Von Annette Ramelsberger

Der Vertreter des neuen Kreuzberg residiert in einer Glaskuppel hoch über dem Türkenmarkt am Paul-Lincke-Ufer. Sein Blick schweift über die hellgrünen Weidenbäume am Landwehrkanal, unter denen Ausflugsschiffe dahinziehen, er streift die neu renovierten Gründerzeitfassaden am Ufer, bleibt hängen, wo sich vor den Ständen der Gemüsehändler Frauen drängen, tief verhüllt, mit dunklen Mänteln die einen, in T-Shirts und engen Leggings die anderen.

Das Kreuzberg-Bild, das jeder kennt: Krawalle am 1. Mai (Foto: Foto: ddp)

Ein paar übrig gebliebene Punker mit ihren Hunden hauen die Frauen um Kleingeld an. Stimmen wehen hoch bis in den sechsten Stock, türkisch, deutsch, arabisch. Man weiß nicht, was eindrucksvoller ist: Das Leben da unten oder der Palast aus Glas und Kunst hier oben, fünf Meter hoch, mit riesigen modernen Bildern an den Wänden, eine Residenz, in der man Staatsgäste empfangen kann: den türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan zum Beispiel, der sich hier im Januar aus schweren Polstersesseln stemmte, um seine Landsleute zu grüßen.

Von Zukunft sprach er und davon, dass es die Türken in Deutschland zu etwas gebracht haben. Am 1. Mai wird man von hier aus wieder die Rauchsäulen der abgefackelten Autos sehen. Dann wird Kreuzberg für einen Abend nicht in die Zukunft sehen, sondern wie jedes Jahr in die Vergangenheit zurückfallen und die alten Vorurteile bestätigen.

Früher hätten sie dem Glaspalast über den Dächern Kreuzbergs die Scheiben eingeschmissen. Früher hätte sich einer wie Peter-Jörg Klein hier nicht halten können. Er, ein ehemaliger Banker, Ex-Vorstand der Berliner Bank, Wirtschaftsanwalt. Sie hätten ihn vertrieben als Vertreter des "Schweinesystems", das Berlin im großen Stile ausraube und nun Kreuzberg besetzen wolle. Aber Klein, 60, passiert nichts.

Fünf Jahre wohnt er nun schon hier unter seiner Glaskuppel. Der Banker fühlt sich als Kreuzberger. Immerhin kann er schon bei den Sprüchen mithalten. "Ich konnte die gelifteten Gesichter der Golferfrauen im Grunewald nicht mehr sehen", sagt er. Hier treffe er auf so handfeste, vernünftige Leute.

Klassenkampf als Krampf

Die vernünftigen Leute fetzen sich gerade ein paar hundert Meter weiter. "1889 hat der internationale Arbeiterkongress den 1. Mai zum Kampftag für den Achtstunden-Tag ausgerufen, für den freien Sonntag und gleiche Bezahlung für Mann und Frau", sagt Silke Fischer. "Es war nicht vorgesehen, den Nachbarn das Auto anzuzünden und in einem total armen Bezirk alles in Schutt und Asche zu legen."

Die Frau im schlichten, grauen Jackett sitzt eingerahmt von Bezirksbürgermeisterin und Pastor und stellt vor, was das neue, das nette Kreuzberg sich für diesen 1. Mai ausgedacht hat: ein großes Fest mit türkischen und deutschen Bands. Sogar einen Gottesdienst wird es geben, zum ersten Mal.

Silke Fischer sitzt gespannt da. Als erwarte sie etwas. Als wappne sie sich gegen einen Angriff, der kommen muss, nur ist noch unklar, woher. Die Frau kennt die Rituale. Seit 24 Jahren wohnt sie im Kiez, sie war Hausbesetzerin, hat ihre kleinen Söhne in WGs groß gezogen. Jetzt, mit 44, hat sie sich abgearbeitet am Staat, an der Gesellschaft, am Leben. "Die Menschen haben keinen Bock mehr auf Randale", sagt sie. "Fertig."

Dann geschieht, worauf Silke Fischer gewartet hat. Ein Mann springt auf, seine Stimme überschlägt sich. "Ihr habt den Organisatoren der revolutionären 1.-Mai-Demo den Krieg erklärt", ruft er. "Ihr wollt aus dem 1. Mai ein unpolitisches Event machen." Es ist Michael Kronawitter, 34, einer der Anmelder der revolutionären Demonstration, die seit Jahr und Tag durch Kreuzberg zieht. Er will den Demozug mitten durch das Fest führen. Silke Fischer zischt: "Sagt doch gleich, dass ihr das Fest verhindern wollt." Rote Wutflecken kriechen vom Hals in ihr Gesicht.

"Das werden sich die Leute nicht bieten lassen", ruft Kronawitter. "Das wird als Kampfansage aufgefasst." Kronawitter ist vor Jahren von Bayern nach Berlin "geflohen", wie er sagt, und arbeitet als Arzt in einem "Praxis-Kollektiv". Diesmal ist er für "ACT!" hier, einen Zusammenschluss gewaltbereiter linksextremer Gruppen, wie es der Berliner Verfassungsschutz sieht. Kronawitter steht da wie die Inkarnation des Klassenkampfs - und ist doch nur das Überbleibsel einer untergegangenen Zeit.

Es ist vorbei. Spätestens, als die Schrift in der Lausitzer Straße verschwand, war es klar. 15 Jahre lang schauten die Bewohner des Hauses Lausitzer 39 auf die großen, schwarzen Buchstaben in der Hofeinfahrt gegenüber: "Vergewaltiger, wir kriegen dich. Die Kiez-Miliz." 15 Jahre lebten sie mit diesem Gruß, 15 Jahre, die Kreuzberg veränderten. Dann, Anfang 2002, wurde die Wand gestrichen. Die Schrift war weg.

Sie muss 1987 entstanden sein, in jenem Jahr der Straßenschlachten, als "Bolle" brannte, der Lebensmittelmarkt. Aus dem Gebäude zogen die Nachbarn mit Bierflaschen und vollbepackten Einkaufswägen davon. Damals hatten viele das Gefühl, sich zu nehmen, was ihnen gehörte. Ihnen, deren Bezirk das Hochglanz-Berlin verlottern ließ, es am liebsten abreißen und eine Stadtautobahn darüber legen wollte.

Damals - das war die Zeit, als die Autonomen eine Woche lang Eimer neben das WG-Klo stellten und dann loszogen, die vollen Eimer ins Restaurant Maxwell in der Oranienstraße zu schütten, vor die Füße der Gäste, die sich hier erlaubten, auch mal Kalbsfilet zu essen und nicht nur Döner und Moussaka. Das Maxwell machte zu.

Und heute? Kein Restaurant muss mehr fliehen, weil es Besonderes anbietet. Aus den Dönerbuden sind längst bürgerliche türkische Lokale geworden, sogar Sushi gibt es jetzt im Kiez. Auf einer Anwohnerversammlung wurde gar gefragt, ob die Polizei nicht öfter vorbeischauen könnte. Und es kommt jetzt vor, dass Bayern zu Besuch nach Kreuzberg kommen und dann, auf das Schlimmste vorbereitet, ganz erstaunt sagen: "Ist doch nett hier. Und so sauber!"

Kreuzberg ist nicht mehr, wie es war

Kreuzberg ist nicht mehr, wie es war. Vor allem nicht so, wie es sich in der kollektiven Erinnerung festgesetzt hat: mit brennenden Barrikaden, vermummten Chaoten, Ratten in den Höfen. Wer in den Tagen vor dem 1. Mai durch die Oranienstraße, die Achse des Bezirks, schlendert, dort, wo sich früher die Autonomen sammelten, der kommt an türkischen Aussteuerläden vorbei, am Maultaschengeschäft, wo sich seit Jahren die schwäbischen Auswanderer eindecken, am "Frauenkollektiv Kraut und Rüben".

Die Kleiderläden heißen hier Verrutschi oder Luzifer, die Kneipen Molotow und Rote Harfe. Und in Abu Lailas libanesischer Konditorei kann man Nachtigallennester essen, zuckrigen Nudelteig mit Pistazien. Am Ende der Oranienstraße, neben den Ruinen des abgebrannten "Bolle", steht das "Deutsche Haus", gekennzeichnet in Frakturschrift.

Aber Kreuzberg ist immer anders, als man denkt: "Dort gibt es die beste türkische Hausmannskost", sagt die Bezirksbürgermeisterin. Von der PDS ist sie, eine kleine, energische Frau mit kantigem Kinn. Sofort dringt sie in die Küche vor. Natürlich spricht sie türkisch mit dem Koch. Eigentlich kommt sie von der schwäbischen Alb.

Nicht einmal die Polizei führt Kreuzberg noch als besonders problematischen Bezirk. In anderen Teilen Berlins ist die Kriminalitätsbelastung viel höher. Die Randale am 1. Mai? Ein Ritual, das es zu überstehen gilt. Lästig, mehr nicht. "Ich wäre ein Phantast, wenn ich sagen würde, diesmal passiert nichts", erklärt Jürgen Klug, der Leiter der Polizeidirektion 5.

Natürlich werden sie kommen, die zornigen jungen Männer, Kinder oft noch, die einmal im Jahr zeigen müssen, wie stark sie sind. Und die Touristen aus Reutlingen und Regensburg, die die brennende Luft von Kreuzberg riechen wollen. Natürlich werden Steine fliegen. Doch es ist auch alles ganz anders.

"Unsere Leute konnten sich letztes Jahr am 1. Mai zu Fuß durch die Oranienstraße bewegen, ohne dass ihnen etwas passiert ist", sagt Klug. "Früher wäre das nicht gegangen." Früher hätte man ihn nicht als Zuhörer geduldet, wenn die Kreuzberger über den 1. Mai reden. Jetzt sitzt er hier, vier goldene Sterne auf der Schulterklappe, und keiner sagt auch nur ein schiefes Wort zu ihm.

Das laute Autonome bestimmt nicht mehr den Alltag in Kreuzberg. Dafür hat sich etwas Leises eingeschlichen. Etwas, das schwer zu fassen ist und doch das tägliche Leben immer mehr beeinflusst. Nicht allein, dass die Zahl der Kopftücher zunimmt. Der Bezirk zerfällt - in die Türken, die Araber, die Deutschen. "Die ausländischen Familien schotten sich ab, wir bekommen keinen Zugang mehr" , sagt die Diplom-Pädagogin Alev Kubat-Celik, eine dunkelhaarige, selbstbewusste Frau, die mit 13 Jahren nach Deutschland kam. Sie ist für das soziale Quartiersmanagement im Kiez verantwortlich.

Seit drei, vier Jahren beobachtet sie, wie die Integration zurückgeht. Wie Palästinenser-Blöcke entstehen, Türken-Straßen. Wie junge Türken und Araber plötzlich von "den Deutschen" reden wie von Gegnern. "Wir erleben, wie sich Parallelwelten bilden", sagt Kubat-Celik, die nur noch laut Pass Muslimin ist. Schon die Kleinkinder gehen jetzt in die Koranschulen, die Mädchen tragen bereits in der ersten Klasse Kopftuch. "Der Islamismus breitet sich aus, es geht unglaublich schnell", sagt Kubat-Celik.

Die Grundschulen haben hier einen Ausländeranteil von 80, 90, manchmal 100 Prozent. "Wir sind in eine Sackgasse geraten", gibt Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (PDS) zu. Lösungen hat sie keine. Türkische Familien, die Wert auf Sprache und Bildung legen, ziehen weg, sobald ihre Kinder eingeschult werden - ins gutbürgerliche Wilmersdorf zum Beispiel mit seinen großen herrschaftlichen Mietshäusern und dem geringen Ausländeranteil.

Dort wohnt auch Alev Kubat-Celik. Als sie vor 20 Jahren in Wilmersdorf ihr Abitur machte, da kannte sie genau drei türkische Familien im Bezirk. "Jetzt ist alles voller Türken, die wollen, dass ihre Kinder ordentlich deutsch lernen." Silke Fischer hat ihre zwei Jungs in Kreuzberg groß gezogen, 16 und 22 sind sie jetzt. Sie hat mit ihnen ein Leben geführt, wie man es konnte in Kreuzberg: selbstbestimmt, solidarisch, multikulturell.

"Ich bereue es zutiefst, dass ich meine Kinder hier großgezogen habe", sagt Fischer. "Ich habe meine zwei Söhne der Integration geopfert." Sie sieht müde aus, angestrengt, sie kämpft gerade um eine Lehrstelle für ihren Großen, will den Jüngeren irgendwie zum Schulabschluss bringen. Sie hat ihn jetzt aus seiner Kreuzberger Schule genommen und in einem anderen Bezirk untergebracht. Dort ist er von einer 3 auf eine 5 abgesackt.

Eine neue Sprache

Fremd sind ihr die eigenen Kinder geworden. "Mein jüngerer Sohn hat keinen einzigen deutschen Freund. Nur Türken und Araber", sagt Fischer. "Die entwickeln eine eigene Sprache. Sie reden alle gleich - egal, ob sie Türken, Araber oder Deutsche sind. Deutsch ist nicht mehr die Verkehrssprache." Sie wüssten auch genau, dass sie mit ihrer Bildung nichts werden könnten, draußen in der Welt. "Wir durften noch träumen", sagt die einstige Revolutionärin. Für ihre Kinder ist der Traum vorbei.

Es gibt auch das Gegenteil. "Es gibt so wunderbare Geschichten von geglückter Integration." Die Sozialarbeiterin Filiz Müller-Lenhartz zeigt auf das große, gerahmte Schwarz-Weiß-Foto über ihrem Schreibtisch bei der Arbeiterwohlfahrt: Fünf junge Männer vor einem Zug, gerade angekommen in Deutschland. Jeder beißt in einen Apfel. 37 Jahre ist das nun her. Der verwegene junge Mann in der Mitte ist ein alter Herr geworden.

Es gibt auch ein aktuelles Bild von ihm: mit deutschen Rentnern zusammen beim Kegeln. Die treffen sich regelmäßig. Filiz Müller-Lenhartz ist selbst die personifizierte Integration: in der Türkei geboren, in Schwaben aufgewachsen, in Kreuzberg zuhause. Ihre Eltern sind noch in die Türkei zurückgekehrt, sie ist geblieben. 1996 ist sie Deutsche geworden. "Es geht in kleinen Schritten voran", sagt sie. "Aber es geht voran." An der Ecke hat gerade ein deutsch-türkisches Anwaltsbüro aufgemacht. Das ist doch was.

Wer mit der Palästinenserin Wafaa, der Kurdin Ilknur und der Deutschen Nadja, alle Mitte 20, durch Kreuzberg zieht, der glaubt sofort, dass es hier toll ist und dass alles gut wird. Probleme? Sie doch nicht, sagen die drei. Wafaa läuft selbstbewusst in die Moschee, führt in den eigentlich für Männer reservierten Teeladen, kennt den besten Döner. An der Bushaltestelle begrüßt sie ihre Mutter, eine verschleierte Palästinenserin. "Ganz alte Schule" sei die noch, sagt Wafaa.

Sie selbst hole sich das Beste aus den verschiedenen Kulturen. Man müsste Wafaa und ihre Freundinnen ins Lehrbuch für Integration aufnehmen: zwei schlagfertige Einwanderinnen, die perfekt Deutsch sprechen, und eine blonde, kesse Berlinerin, die sich mit der Großmutter ihres türkischen Freundes auf Türkisch unterhält.

Nie, nie, nie wollen sie Kreuzberg verlassen. Hier ist das Leben. Ein Leben zwischen Glaskuppeln und Hinterhöfen, ein Leben in Extremen, auf Messers Schneide. Hier rufen sie in den Andenkenläden auf T-Shirts sogar schon das "Weltkulturerbe Kreuzberg" aus. "Es ist", sagt Wafaa, "unsere Heimat."

© SZ vom 29.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: