Belgien: Am Rande der Spaltung:"Dieses Spiel wird langsam gefährlich"

Lesezeit: 7 Min.

Die Sprache war stets Zankapfel zwischen Flamen und Frankophonen - rund um Brüssel zeigt sich, wie gefährlich der Streit für das Land geworden ist.

Cornelia Bolesch

Die Fahne haben sie am Dachfenster festgemacht. Wie jedes Jahr sollte sie dort nur am 21. Juli, dem Nationalfeiertag, leuchten. Doch nun hängt es immer noch da, das schwarz-gelb-rote Tuch zur Beschwörung der Einheit Belgiens.

"Stoppt das Theater" - Titel belgischer Printmedien zur Krise im Königreich (Foto: Foto: AFP)

Die Steenbeeks hatten sich zunächst nicht viel dabei gedacht, als nach den Parlamentswahlen am 10. Juni die Verhandlungen für eine neue Regierung einfach nicht vorankamen. Flamen und Frankophone sind sich noch nie schnell einig geworden.

Nun aber sind schon mehr als fünf Monate vergangen, und die Parteien streiten immer noch. Rudy Steenbeek hat ein mulmiges Gefühl. "Dieses Spiel wird langsam gefährlich. Am Ende verlernen wir es noch, normal zu leben."

Menschen wie Rudy und Erna Steenbeek sind Belgiens Normalität, sie eine Flämin aus Dendermonde, er ein Frankophoner aus Brüssel. Die Sprache - ewiger Zankapfel zwischen den beiden Volksgruppen - war zwischen ihnen kein Problem.

Seit sie vor 35 Jahren geheiratet haben, sprechen sie Französisch miteinander. Erna Steenbeek beherrscht Französisch einfach besser als ihr Mann Rudy das Niederländische. Sie hat Französisch in ihrer flämischen Schule gelernt. Ihrem Sohn wollte sie Niederländisch beibringen. "Er mochte es nicht." Man ließ das Kind in Ruhe.

Demütigung und Schikane

Rudy Steenbeek ist Apotheker, sie arbeitet als Übersetzerin. Seit 20 Jahren lebt das Paar in einem adretten Haus mit Garten im flämischen Kraainem, nur wenige Kilometer vom Brüsseler Stadtzentrum entfernt. "De Rand" sagt man in Belgien zu den Gemeinden, die sich wie ein Gürtel um das zweisprachige, aber frankophon geprägte Brüssel legen. Viele sind aus der internationalen Stadt in das flämische Umland gezogen. Das Leben hier ist gemächlicher, die Steuersätze sind niedriger.

Doch Belgiens Krise hat "De Rand" in die Bruchkante eines politischen Erdbebengebiets verwandelt. Hier verläuft die Sprachgrenze, die "Frontière linguistique". Flämische Separatisten sind schon mehrmals mit Bussen aus dem Norden angereist, um mit flatternden Fahnen ihr Territorium zu verteidigen. Dabei sollte die 1962 gezogene Sprachengrenze Frieden zwischen den beiden Gemeinschaften stiften.

Jeden Morgen und jeden Abend sehen Erna und Rudy Steenbeek zu Hause die Nachrichten. Sie stellen fest, dass die frankophonen und die flämischen Sender völlig unterschiedliche Wahrheiten verbreiten. Pathetische Worte wie Diskriminierung, Diktatur und Demütigung schwirren durch den Äther.

"Demütigung" ist in Belgien seit jeher ein Schlüsselwort. Die Flamen fühlen sich gedemütigt, weil die Frankophonen wenig Neigung zeigen, ihre Sprache zu lernen. Flämisch galt früher in Belgien als Sprache der "Dienstboten und der Haustiere", spottet der Schriftsteller Geert van Istendael. Wer etwas darstellen wollte, sprach Französisch. Das hat man im flämischen Norden nie vergessen.

Rudy Steenbeek weiß nicht, warum man das ändern sollte. Interesse an einer Sprache könne man ja nicht einfach verordnen. Er selbst hat Niederländisch gelernt, um seinen flämischen Kunden Medizin zu verkaufen.

An der Grenze zwischen flämischer und wallonischer Region: der Großraum Brüssel (Foto: Grafik: SZ)

Ohne Niederländisch zu können, dürfte er in Kraainem auch gar nicht im Sozialausschuss der Gemeinde sitzen. "Man braucht einen Grund, um Sprachen zu lernen. Die Liebe, die Suche nach einem Job ..."

Das Motiv "Respekt" nennt Rudy Steenbeek nicht. Respekt gegenüber dem Milieu, in dem man lebt. Er findet, das gelte doch nur im Ausland. Dort müsse man sich anpassen. Aber doch nicht hier. Nicht in Belgien.

"Ich bin doch kein Fremder im eigenen Land." Dabei ist mangelnder gegenseitiger Respekt die Ursache der belgischen Krankheit. Sie grassiert vor allem am Brüsseler Rand.

In sechs Brüsseler Randgemeinden haben deren französisch sprechende Einwohner seit 1963 spezielle Rechte. Die Ortsschilder sind zweisprachig. Auskünfte werden auch auf Französisch erteilt. Die Kommune finanziert frankophone Grundschulen und Bibliotheken.

Was am Anfang als perfekte Minderheitenpolitik erschien, hat sich zwischen Flamen und Frankophonen im Laufe der Zeit in ein groteskes Missverständnis verwandelt. In einem Teil der flämischen Gemeinden ist aus der Minderheit längst die Mehrheit geworden. Doch den Flamen fällt es schwer, das zu akzeptieren.

Klingende Namen

In Kraainem leben nur noch 1800 Flamen, aber 7900 Frankophone. Die Frankophonen besetzen 18 von 23 Sitzen im Gemeinderat. Sie wollen nicht mehr nach der Pfeife der flämischen Regionalregierung tanzen.

Ihre Bürgermeister sind Adelige mit klingenden Namen wie Arnold d'Oreye de Lantremange in Kraainem oder François van Hoobrouck d'Aspre in Wezembeek-Oppem. Sie legen sich mit flämischen Politikern an, die schlicht Leo Peeters oder Marino Keulen heißen, aber stur verfügen, dass Wahlaufrufe und andere offizielle Bekanntmachungen in französischer Sprache den Frankophonen nicht mehr automatisch zugestellt werden dürfen, sondern immer extra beantragt werden müssen.

Einige der 2006 frisch gewählten frankophonen Bürgermeister halten sich nicht an diese Order. Die flämische Regionalregierung hat sie deswegen wegen Unbotmäßigkeit immer noch nicht im Amt bestätigt.

Im Gemeindezentrum von Kraainem ist von solchen Turbulenzen nichts zu spüren. Vor dem modernen Bau wehen einträchtig die Flaggen von Europa, Belgien, Flandern und Kraainem. Im Gebäude herrscht die Atmosphäre einer offenen und effizienten Verwaltung.

400 Brillen haben die Einwohner gerade für Afrika gesammelt. Wer in Kraainem wohnt, dem hilft die Gemeinde mit einem Füllhorn bunter Ratgeber beim Bau von Veranden, Carports, Schwimmbädern und Terrassen. Zweisprachige Hinweise zeigen den Besuchern, wo man "sacs poubelles" beziehungsweise "huisvuilzakken" (Müllsäcke) abholen kann.

Bürgermeister Lantremange klettert aus seinem Auto. Auf dem Rücksitz blitzt das schwarz-gelb-rote Tuch. Am Vortag hat er es gebraucht. Da hat er in Brüssel mit anderen Bürgermeisterkollegen die "Befreiung" seiner Gemeinde aus flämischer Aufsicht und ihren Anschluss an die belgische Hauptstadt gefordert.

Das war die harsche Antwort der frankophonen Lokalpolitiker auf eine dramatische Abstimmung kurz zuvor im belgischen Parlament. Da hatten erstmals alle flämischen Parteien gegen die frankophone Minderheit gestimmt. Künftig sollen die Frankophonen im Umland bei Wahlen nicht mehr das Recht haben, für Brüsseler Kandidaten zu stimmen.

Nach dieser spektakulären Demonstration sitzt der Bürgermeister von Kraainem in seinem Dienstzimmer und sagt: "Ich verstehe die Flamen nicht. Bei denen schwingt so viel falsche Romantik mit."

Ständig täten sie so, als seien sie immer noch unterdrückt. "Die Flamen sind reich, dominieren alles. Sie sitzen an der Spitze der Banken und der Ministerien. Die Geschichte hat sich doch längst umgekehrt."

Arnold d'Oreye de Lantremange hat mit 66 Jahren noch Niederländisch gepaukt. Sonst könnte er in Kraainem nicht Bürgermeister sein. Auf den Sitzungen des Gemeinderats darf kein französisches Wort fallen, sonst gibt es Ordnungsrufe, und die Beschlüsse werden von der flämischen Aufsicht kassiert.

Tief in Flandern

Der Bürgermeister hat es sich angewöhnt, die Mitglieder seiner frankophonen Liste vor jeder Sitzung zu sich nach Hause einzuladen. Dort erklärt er auf Französisch, worum es am nächsten Tag geht.

Die flämische Regionalregierung würde die gesetzlich verbrieften Rechte der Frankophonen am liebsten kappen. Weil das nicht geht, hat sie eine Bürokratie entwickelt, die von den Frankophonen als reine Schikane empfunden wird. So bekommt die Gemeinde zwar Subventionen für die frankophone Bibliothek, aber nur, wenn 75 Prozent der Bücher in flämischer Sprache sind.

Seit die Region keine 300 Euro Prämie mehr für diejenigen zahlt, die zwei Sprachen sprechen, findet die Gemeinde keine geeigneten Beamten mehr, obwohl die eigentlich vorgeschrieben sind. Die flämische Grundschule nimmt frankophone Kinder auf, doch flämische Kinder dürfen nicht auf die frankophone Schule gehen.

"Die nehmen keine Rücksicht auf unsere Realität", klagt der Bürgermeister. Aber "De Rand" hat auch seine eigenen Zündler. Den Bürgermeister von Wezembeek-Oppem etwa. François van Hoobrouck d'Aspre nennt die Flamen hochmütig "Parvenus", Emporkömmlinge.

Er stachelt die Frankophonen zum "zivilen Ungehorsam wie in Indien" auf. Selbst Menschen wie Rudy Steenbeek werden von der gereizten Stimmung erfasst: "Die Flamen wollen uns erniedrigen." Auch Erna Steenbeek ist dafür, dass Kraainem künftig zu Brüssel gehört. "Dann hätten wir Frieden."

Während Belgien im Konflikt stagniert, verändert sich die Welt in rasendem Tempo, auch in der Nachbarschaft der Steenbeeks. "In unserem Viertel haben wir Familien aus Schweden, England, Deutschland, der Slowakei, Luxemburg, Italien, Spanien und der Ukraine", zählt Erna Steenbeek fröhlich auf. Drei belgische Nachbarn seien auch noch da. Flanderns Liberale haben auf diese Zeichen der Zeit reagiert.

Bei den letzten Kommunalwahlen in Kraainem hat die liberale Partei die Europäer im Ort in mehreren Sprachen umworben. Ein Brite führe jetzt den lokalen Parteiverband, erzählt der Politiker Luk Van Biesen stolz. Der Steuerberater aus Kraainem sitzt als einer von fünf Oppositionellen im Gemeinderat. Er hat es auch ins belgische Parlament geschafft. Er war dabei an dem historischen Tag, als man die Frankophonen offen niederstimmte.

Luc Van Biesen ist Belgiens Schicksal gleichgültig. Es geht ihm um die Zukunft Flanderns. Aus Kraainem soll eine internationale Kommune werden. Gegen einen Chor vieler Sprachen hat er nichts, solange man darin nur das Französische nicht mehr hört. Flamen wie Luk Van Biesen können sich nicht von der Vergangenheit lösen.

Konflikte und Komplexe

"Es ist gerade mal 100 Jahre her, da haben wir erstmals unsere eigene Universität bekommen. Wir haben lange darum gekämpft, bis wir dahin gekommen sind, wo wir jetzt sind. Das geben wir erst mal nicht auf. Wir werden nie ein belgisches Volk sein."

Mechthild von Alemann kennt die Konflikte und Komplexe am Brüsseler Rand. Die Deutsche lebt seit 30 Jahren in Belgien. 1997 ist die ehemalige FDP-Europaabgeordnete nach Wezembeek-Oppem gezogen, kandidierte wenige Jahre später erfolgreich für den Gemeinderat.

2002 sollte sie einen der heißesten Anträge der Frankophonen begründen, den Anschluss der Gemeinde an die Brüsseler Region, doch ihr Niederländisch war nicht perfekt.

"Den meisten scheißegal"

Was dann geschah, darüber kann Mechthild von Alemann heute wieder lachen: "Die flämische Opposition schrie immer 'Was sagt sie?', 'Was sagt sie?' Sie behaupteten, alles sei völlig unverständlich gewesen. Man könne darüber nicht abstimmen. Mein Antrag war gescheitert."

Heute lebt die 71-Jährige in Tervuren. Das ist gleich neben Wezembeek-Oppem, doch schon tiefstes Flandern. Sie vermisst ihren alten Wohnort, die ständig bedrohte Zweisprachigkeit. In Tervuren, erzählt sie, sträube sich die Gemeinde sogar, englische Broschüren für die Touristen zu drucken. "Auf der Post kriegt man nicht mal eine Briefmarke, wenn man nicht niederländisch spricht."

Mechthild von Alemann gerät in Zorn, wenn sie über die aktuelle Krise spricht. "Den meisten Belgiern ist es doch scheißegal, was die in Brüssel machen. Die haben andere Sorgen. Die hohen Spritpreise, die Arbeitslosigkeit, die Renten. Die wollen, dass sich endlich eine Regierung kümmert."

Eine schwarz-gelb-rote Fahne wie die Steenbeeks in Kraainem hängt sie in Tervuren aber nicht vors Haus. "Ich traue mich nicht. Man würde mir die Blumenkästen kaputtmachen."

© SZ vom 19.11.2007/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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