Die Fahne haben sie am Dachfenster festgemacht. Wie jedes Jahr sollte sie dort nur am 21. Juli, dem Nationalfeiertag, leuchten. Doch nun hängt es immer noch da, das schwarz-gelb-rote Tuch zur Beschwörung der Einheit Belgiens.
"Stoppt das Theater" - Titel belgischer Printmedien zur Krise im Königreich
(Foto: Foto: AFP)Die Steenbeeks hatten sich zunächst nicht viel dabei gedacht, als nach den Parlamentswahlen am 10. Juni die Verhandlungen für eine neue Regierung einfach nicht vorankamen. Flamen und Frankophone sind sich noch nie schnell einig geworden.
Nun aber sind schon mehr als fünf Monate vergangen, und die Parteien streiten immer noch. Rudy Steenbeek hat ein mulmiges Gefühl. "Dieses Spiel wird langsam gefährlich. Am Ende verlernen wir es noch, normal zu leben."
Menschen wie Rudy und Erna Steenbeek sind Belgiens Normalität, sie eine Flämin aus Dendermonde, er ein Frankophoner aus Brüssel. Die Sprache - ewiger Zankapfel zwischen den beiden Volksgruppen - war zwischen ihnen kein Problem.
Seit sie vor 35 Jahren geheiratet haben, sprechen sie Französisch miteinander. Erna Steenbeek beherrscht Französisch einfach besser als ihr Mann Rudy das Niederländische. Sie hat Französisch in ihrer flämischen Schule gelernt. Ihrem Sohn wollte sie Niederländisch beibringen. "Er mochte es nicht." Man ließ das Kind in Ruhe.
Demütigung und Schikane
Rudy Steenbeek ist Apotheker, sie arbeitet als Übersetzerin. Seit 20 Jahren lebt das Paar in einem adretten Haus mit Garten im flämischen Kraainem, nur wenige Kilometer vom Brüsseler Stadtzentrum entfernt. "De Rand" sagt man in Belgien zu den Gemeinden, die sich wie ein Gürtel um das zweisprachige, aber frankophon geprägte Brüssel legen. Viele sind aus der internationalen Stadt in das flämische Umland gezogen. Das Leben hier ist gemächlicher, die Steuersätze sind niedriger.
Doch Belgiens Krise hat "De Rand" in die Bruchkante eines politischen Erdbebengebiets verwandelt. Hier verläuft die Sprachgrenze, die "Frontière linguistique". Flämische Separatisten sind schon mehrmals mit Bussen aus dem Norden angereist, um mit flatternden Fahnen ihr Territorium zu verteidigen. Dabei sollte die 1962 gezogene Sprachengrenze Frieden zwischen den beiden Gemeinschaften stiften.
Jeden Morgen und jeden Abend sehen Erna und Rudy Steenbeek zu Hause die Nachrichten. Sie stellen fest, dass die frankophonen und die flämischen Sender völlig unterschiedliche Wahrheiten verbreiten. Pathetische Worte wie Diskriminierung, Diktatur und Demütigung schwirren durch den Äther.
"Demütigung" ist in Belgien seit jeher ein Schlüsselwort. Die Flamen fühlen sich gedemütigt, weil die Frankophonen wenig Neigung zeigen, ihre Sprache zu lernen. Flämisch galt früher in Belgien als Sprache der "Dienstboten und der Haustiere", spottet der Schriftsteller Geert van Istendael. Wer etwas darstellen wollte, sprach Französisch. Das hat man im flämischen Norden nie vergessen.