Behindertenbeauftragte:"In der Wirtschaft braucht es Überzeugungsarbeit"

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Verena Bentele erkennt gute Seiten am neuen Gesetz - aber auch Nachbesserungsbedarf.

Interview von Christoph Dorner

SZ: Frau Bentele, Sie haben eine Sehbehinderung. Was ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz für einen Menschen, der nicht sehen kann, in einer Behinderteneinrichtung wohnt und einer Werkstatt arbeitet?

Verena Bentele: Das Arbeitsförderungsgeld wird verdoppelt, damit haben die Menschen mehr von ihrem Lohn und somit auch höhere Teilhabechancen. Viele der 300 000 Menschen, die in Werkstätten arbeiten, sind Grundsicherungsempfänger. Sie können zukünftig mehr Vermögen ansparen. Das sind zwei konkrete Verbesserungen, über die ich froh bin.

Kann denn das Gesetz auch dazu führen, dass es für Menschen mit Beeinträchtigungen aus den Werkstätten in den normalen Arbeitsmarkt schaffen?

Wir haben zukünftig ein "Budget für Arbeit". Damit können Lohnzuschüsse gezahlt werden, um mehr Übertritte in den inklusiven Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Hier ist aber vor allem in der Wirtschaft noch viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Die Unternehmen müssen mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stellen.

Behinderten- und Sozialverbände haben den Gesetzgebungsprozess kritisch begleitet.

Wo gibt es noch Kritikpunkte? Mir fehlt in dem Gesetz das Bekenntnis, dass Menschen ein Recht auf eine individuelle Assistenz haben, vor allem in den Bereichen Wohnen und Freizeit. Im Bereich des Wohnens wurden zwar Verbesserungen erreicht, doch auch hier besteht zu viel Spielraum im Rahmen der Zumutbarkeits- und Angemessenheitsprüfung. Bei der Freizeitgestaltung sehe ich die Gefahr, dass der Wunsch nach einer Assistenz oft hinter dem Kostenvergleich zurückstehen wird.

Zeigt dieses Beispiel nicht, dass individuelle Teilhabe bei gleichzeitiger Kostenkontrolle schlecht zusammengehen?

Die Länder und Kommunen tragen die Leistungen der Eingliederungshilfe. Ihre Forderung war es, dass die Ausgaben nicht wesentlich steigen. Mir ist jedoch wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in ihrem Recht auf Teilhabe gestärkt werden.

Viele Behinderte fürchten sich vor Einzelfallentscheidungen.

Zu Recht? Es wird entscheidend sein, wie das Gesetz vor Ort umgesetzt wird. Ein Erfolg des Gesetzes ist für mich die Einrichtung einer unabhängigen, nicht von Kosteninteressen geleiteten Teilhabeberatung. Diese Beratungsstellen müssen schnell dringend eingerichtet werden.

Sie sagen, das Bundesteilhabegesetz könne nur "erste Basis" sein.

Das heißt? Andrea Nahles hat Menschen mit Behinderungen an der Erarbeitung des Gesetzesentwurfs beteiligt. Ich wünsche mir, dass diese Beteiligung auch weitergeht.

© SZ vom 02.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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