Barrosos Berufung nach Brüssel:Katerstimmung im Rausch der Gefühle

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Mitten in der Fußball-Euphorie wechselt Portugals Premier Durao Barroso nach Brüssel - und hinterlässt ein gespaltenes Land. Der Vorwurf: "Er haut einfach ab, jetzt, wo es schlecht läuft."

Von Peter Burghardt

Endlich wird wieder Fußball gespielt, ganz Portugal wartet darauf. Im Stadion Alvalade von Lissabon, dieser grüngelben Schüssel, die zu den Symbolen des Fortschritts zählt, jagen die Gastgeber dieser Europameisterschaft am heutigen Mittwoch gegen Holland eine Vision. Das Halbfinale ist der vorläufige Höhepunkt der nationalen Sportgeschichte - übertroffen werden kann sie bloß noch, wenn Luis Figo, Cristiano Ronaldo und die anderen obendrein ins Finale stürmen.

Zehn Millionen Portugiesen stehen hinter ihrer Auswahl, die rotgrünen Flaggen hängen an jedem zweiten Haus, wehen an jedem zweiten Taxi, Gebäude leuchten im rotgrünen Licht. Seit der Nelkenrevolution 1974, als linke Offiziere mit Blumen in den Gewehrläufen die Diktatur beendeten, ging es nicht mehr so patriotisch zu. Doch in den Rausch der Gefühle mischt sich auf einmal miese Stimmung.

Überraschendes Erdbeben

Die schlechte Laune legt sich vor dem großen Duell so schwer über das Land wie die Sommerhitze. Man spürte sie gerade zu Wochenbeginn, als das Turnier erstmals seit seinem Start am 12. Juni Pause machte und nachts die Straßen leer waren. Die Stille kündete vom baldigen Ende des Festes, und mitten in der letzten Euphorie um die EM berichten Fernsehen und Zeitungen über eine unverhoffte Partie jenseits des Rasens.

Deren Ausgang wird die Republik über das Endspiel hinaus bestimmen. Aus der Provinz, wo die Temperaturen auf bis zu 40 Grad gestiegen sind, werden wie im vergangenen Jahr Waldbrände gemeldet. Aber das ist es nicht. Beunruhigender sind Nachrichten, dass die Regierung einstürzt, weil ihr Chef in die Europa-Zentrale berufen wird. "Wir alle haben auf ein Erdbeben unserer Nationalmannschaft gewartet", schreibt ein Journalist, "doch das wahre Erdbeben kommt aus Brüssel, und es hat sein Epizentrum in Sao Bento".

Sao Bento ist der Sitz des Ministerpräsidenten, eine wuchtige Residenz hinter Bäumen, an der die Straßenbahn der Linie 28 vorbeiquietscht. Seit Frühjahr 2002 heißt der Hausherr Jose Manuel Durao Barroso. Nun soll der plötzlich in das Büro von Romano Prodi umziehen, weil sich die 25 EU-Mitglieder auf keinen anderen Nachfolger für den Vorsitz ihrer Kommission einigen konnten. Der eher unbekannte Senhor Durao Barroso bekommt den bedeutendsten Job der Union, weil er aus einem kleinen Land stammt und wie die meisten europäischen Parlamentarier zu einer konservativen Partei gehört.

Im Prinzip kann das einstige Weltreich am Rande des Kontinents auf die Ernennung stolz sein. "Eine offenkundige Ehre", ließ Staatschef Jorge Sampaio ausrichten. "Eine Hommage", erläuterte der Auserwählte, "die vielleicht wichtigste Position, die ein Land auf internationalem Niveau bekommen kann." Aber nicht zum Preis "einer unnötigen politischen Instabilität", bat Durao Barroso. Zu spät.

Der Kandidat hatte noch gar nicht zugesagt, da tobte schon der Streit um sein Erbe. Erster Bewerber war der Vize von Barrosos Partei PSD, den so genannten Sozialdemokraten, die der deutschen CDU ähneln. Pedro Santana Lopes, Bürgermeister von Lissabon, werden schon lange Ambitionen nachgesagt.

Berüchtigt ist sein Ehrgeiz auch bei Fußballfans, denn Santana Lopes war früher Patriarch des Klubs Sporting. "Wenn Europa einen Portugiesen ruft", findet er, "dann kann das doch keine Krise zur Folge haben." Sogleich traf sich Santana Lopes zum Strategiegipfel mit dem umstrittenen Verteidigungsminister Paulo Portas, dem Rechtsaußen der Regierungskoalition.

Von der Vorstellung einer populistischen Doppelspitze Santana/Portas indes sind selbst Kabinettsmitglieder entsetzt. Eine Ernennung ohne Parteikongress sei "ein Putsch", polterte Finanzministerin Manuela Ferreira Leite. Die sozialistische Opposition, die Durao Barrosos Aufstieg ohnehin ablehnt, fordert Neuwahlen, und das nach ihrem Erfolg bei den Europawahlen am 13.Juni entschieden. Barrosos Sozialdemokraten bekamen nur 33 Prozent der Stimmen, die Sozialisten 44.

Zwei Jahre nach dem vorzeitigen Ende der Ära Guterres wittern sie eine Chance vor der planmäßigen Wahl 2006. Die Herausforderer finden nicht, dass für einen neuen Premier die alte Parlamentsmehrheit genügt. Das letzte Wort hat Präsident Sampaio, Sozialist. Er wird bedrängt von allen Seiten, dabei wollte auch er die EM-Begeisterung genießen. "Lösen Sie das Parlament auf!", forderte ein Kommentator der Zeitung Publico. Portugal sei keine Monarchie mit Thronfolger.

In Sampaios Palast im Viertel Belem geben sich Meinungsmacher die Klinke in die Hand, davor versammelten sich am Sonntag ungefähr 2500 Demonstranten. Auch sie verlangten eine Neuwahl. "30 Jahre Demokratie liefert man nicht einer Bande aus", schimpfte der Filmregisseur Fernando Lopes. Santana Lopes solle sich gefälligst um die Tunnel und Parks in Lissabon kümmern. "Ein unerhörter Moment", rief die sozialistische Abgeordnete Helena Roseta. Durao Barroso habe gelogen, als er behauptet habe, an dem EU-Posten kein Interesse zu haben. "Er haut einfach ab, jetzt, wo es schlecht läuft."

Statt über Doppelpässe und Elfmeterschießen spricht Portugal wieder über Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, die zuletzt gestiegen ist. So wurde bekannt, dass die Europameisterschaft zwar fast eine Milliarde Euro gekostet hat, kurzfristig aber noch weniger bringen wird als 1998 die Weltausstellung Expo - die Einnahmen entsprechen 0,03 Prozent des Bruttosozialprodukts. Durao Barroso fährt einen eisernen Sparkurs, den selbst Parteifreunde nicht unterstützen, am Mittwoch streiken Bus- und Metrofahrer.

"Er flüchtet vor den Problemen", stichelt der Universitätsprofessor Vital Moreira. "Er sollte sich schämen, in welche Situation er das Land gebracht hat." Verlierer wie Jacques Chirac und Gerhard Schröder kürten einen Verlierer, spottet der Soziologe Antonio Barreto. Durao Barroso sei Symbol für den Zustand der EU. Es blüht die Satire. "In Europa hält uns keiner mehr auf", witzelt der Correio da Manha. "FC Porto (Sieger der Champions League), die Nationalmannschaft, Durao Barroso - und Sampaio wird Königin von England."

Protest vor dem Palast

Derweil hetzte der künftige Obereuropäer durch die Krisengespräche. Er mühte sich vergeblich, die Heimat zu beruhigen und das Ausland zu beeindrucken. Bei der Nato in Istanbul sprach Durao Barroso am Montag Englisch und Französisch, Chirac legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter. Am Dienstagmorgen beriet er in Lissabon mit Sampaio und rief die Minister zusammen. Danach nahm er die Nominierung an, die offizielle Ernennung war für den Abend geplant.

Kein Staatenführer dürfe sich entziehen, seinen Beitrag für ein starkes und gerechtes Europa zu leisten, sagte er. Seinen Rücktritt werde er zum geeigneten Moment bekannt geben. Und vor Sampaios Palast ging der Protest weiter.

Inmitten der Grabenkämpfe kann die portugiesische Einheit fürs Erste nur der Fußball retten. "Wir sind besser als die Holländer", verkündet Spielmacher Deco. Auf dem Platz ist die Sache eindeutig: Portugal kann die Europameisterschaft gewinnen oder alles verlieren. Jenseits der Linien sind Sieg und Niederlage Ansichtssache. Portugal gewinnt den Vorsitz der EU-Kommission - und verliert den Regierungschef.

© SZ vom 30.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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