Auszeit:Lob der Leere

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Menschen brauchen den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, um menschlich leben zu können. Doch heute verwischt die Grenze zwischen Arbeit und Muße. Ein Kraftakt ist nötig, um zu sich zu kommen.

Von Matthias Drobinski

Wenn man spaßeshalber einmal das Wort "Auszeit" googelt, wundert man sich, dass überhaupt noch einer da ist. Gestresste Manager verschwinden zur dreimonatigen Segeltour durchs Mittelmeer oder machen sich auf den Jakobsweg Richtung Santiago de Compostela; leergelernte Abiturienten packen die Sachen fürs große Besäufnis am Pool oder für ein Jahr Work and Travel; Familien stopfen die Kofferräume ihrer Autos voll, nervöse Eltern treiben ihre Kinder durch Flughafenterminals. Der Bundestrainer und seine erfolglosen Nationalkicker haben eine Auszeit genommen; wer zu Hause bleibt, sollte die Nordic-Walking-Stöcke aus dem Keller kramen, die Yogamatte entstauben, die Badehose einpacken; eine Stunde Auszeit am Tag sollte sein, raten die Ärzte.

Urlaub, das klingt banal. Ihn gibt es gewissermaßen als Meterware; die Auszeit dagegen, hübsch aufpoliert, steht, sagen wir, bei Manufactum. Wer eine Auszeit nimmt, zeigt Sinn fürs Besondere, Individuelle. Im Satz: "Ich brauche jetzt mal eine Auszeit" schwingt zudem die Dramatik der sozial hoch anerkannten Überlastung mit. Die Auszeit ist die schöne Schwester (und ewige Konkurrentin) des Burn-out. Entsprechend zahlreich, differenziert und umfassend sind die Angebote zur Auszeitgestaltung; wer sie nicht nutzt oder nutzen kann und einfach seinen Stiefel immer weitermacht oder machen muss, gilt als Trottel oder armer Tropf. Eine Auszeit muss man sich schon leisten können.

Wenn der Preis für etwas auf diese Weise steigt, heißt das in der Regel, dass das Gut, um das es geht, ziemlich knapp ist. So ist es auch bei der Auszeit. Menschen brauchen einen Lebensrhythmus, um menschlich leben zu können; sie brauchen den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, Arbeit und Muße, Alltag und Feiertag. Wer nie etwas zu tun hat, wird unglücklich, wer nie eine Pause macht, brennt aus. Auch deshalb sind Zeitsysteme mit klar geregelten Aus- und Festzeiten zum festen Bestandteil religiöser Regeln geworden. In der hebräischen Bibel ruht Gott selber am siebten Schöpfungstag aus - der Allmächtige nimmt eine Auszeit. Die jüdischen Schabbat-Regeln, der muslimische Fastenmonat Ramadan, das Stundengebet der christlichen Klöster dienen dazu, Unterbrechungen des Alltäglichen ins Leben zu bringen, Transzendenzmomente.

Die modernen westlichen Gesellschaften haben sich aus den Korsetts religiös vorgegebener Zeiteinteilung befreit, die kratzen konnten wie die wollne Sonntagshose. Doch dabei sind die Grenzen zwischen Alltag und Auszeit in eigentümlicher Weise verschwommen. Es hat sich ein nie dagewesener Zeitwohlstand eingestellt, mit tarifvertraglich garantiertem Urlaub und Maschinen, die einem das Waschen abnehmen oder einen in schier unglaublicher Geschwindigkeit transportieren. Es hat aber ebenso die Zeitnot zugenommen. Die Arbeit hat sich so verdichtet, dass keine Zeit zum Atemholen bleibt; Sonn- und Feiertage sind immer seltener Zeiten der "Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung", wie es im Grundgesetz steht, sondern Timeslots des Freizeitstresses. Selbst der Urlaub ist zum Element des großen, anstrengenden Lebensdesigns geworden: Sag mir, wohin du fährst, und ich sage dir, wer du bist.

Die Unruhe der Welt - über deren Siegeszug der Kulturphilosoph Ralf Konersmann ein wunderbares Buch geschrieben hat - droht pausenlos zu werden. Das Smartphone erscheint als die finale Verwirklichung jenes Fluches, den Gott dem mörderischen Kain hinterherrief: "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein!" Ja, man kann es ausmachen, das Ding - aber faktisch hat mit ihm die Verwischung und Vermischung von profaner und besonderer Zeit eine neue Dimension erhalten. Die Auszeit ist selber zum Stressfaktor geworden. Mehr noch: Sie ist, selbst optimal genutzt, die Erfüllungsgehilfin der großen Rastlosigkeit - wenn sie dazu dient, dass am Ende Auszeitnehmerin und Auszeitnehmer so weit wiederhergestellt sind, dass sie hübsch weitermachen können, bis sie erschöpft zur nächsten Auszeit kriechen.

Höchste Zeit, die Auszeit zurückzuerobern. Es ist ja eine der größten Fähigkeiten des Menschen, den Alltag unterbrechen zu können und Zeiten des Andersseins zu erleben - ein Tier kann nie aus seiner Haut. Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe, Kultur, Religion: Sie alle leben von der Fähigkeit und dem Mut zur Unterbrechung. Sie ist kein Bruch, sondern ein Ausstieg auf Zeit. Sie ist eine Möglichkeit, Neues, Fremdes zu sehen, sich befremden und erweitern zu lassen - und verändert, mit neuem Abstand, wiederzukommen und zu schauen: Ist, was ich da verlassen hatte, noch gut so? Die Auszeit stellt die Verhältnisse infrage, die der Auszeitnehmer probehalber verlässt.

Diese Unterbrechungsübung erfordert ein bisschen Anstrengung. Man muss lernen, sich loszureißen von der großen Zerstreuung, die überall lockt und zieht, vom Mail- und Kurznachrichtenverkehr, der blinkt und brummt: Checke mich! Es könnte wichtig sein! Man muss dem Irrglauben entsagen, unentbehrlich zu sein. Man muss sich auf sich selber zurückwerfen lassen, was schmerzhaft werden kann, wenn man merkt, wie wenig Selbst geblieben ist. Man muss sich um die Leere, die Stille und die ungenutzte Zeit bemühen - was einst von ganz alleine kam, kann heute ein Kraftakt werden. Aber einer, der sich lohnt, auch weil er der großen und pausenlosen Gereiztheit etwas entgegensetzt, die das Land gerade erfasst zu haben scheint.

Die gute Nachricht: Diese Auszeit geht überall, die Unterbrechung, die eine andere Zeit ins Leben hineinlässt. Sie geht bei der Arbeit in der Mittagspause und abends mit Freunden oder beim Joggen allein; sie geht sogar im Urlaub, in den großen Ferien. Habt Mut zum Wegsein! Das wirklich Schwierige ist ja gar nicht der Aufbruch. Das Schwierige ist zurückzukommen.

© SZ vom 28.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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