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Es waren die USA, die das Problem Irak geschaffen haben - und trotzdem: Es ist nun die Pflicht der Europäer, dort zu helfen.

Derek Chollet

Europa ist zurzeit mit vielem beschäftigt: dem bevorstehenden Regierungswechsel in Großbritannien und dem vollzogenen in Frankreich, mit einer Europäischen Union, die sich in einer weiteren hitzigen Debatte über ihre Zukunft sowie eine erweiterte Mission im Kosovo festgefahren hat.

In Anbetracht dessen überrascht es kaum, dass die gegenwärtige Machtprobe zwischen dem amerikanischen Kongress und Präsident George W. Bush über den Rückzug der US-Truppen aus dem Irak bislang nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit auf dem Kontinent gerückt ist. Das sollte sie aber.

Europas Führer müssen erkennen, dass Washington früher oder später das Kapitel Irak schließen und sie damit vor eine schwierige Wahl stellen wird. Entweder Europa findet einen Weg, gemeinsam mit den USA eine letzte Anstrengung zur Stabilisierung im Irak zu unternehmen, oder es verschließt weiter die Augen vor der Aufgabe - eine Entscheidung, die schwerwiegende Konsequenzen haben wird, für die Iraker ebenso wie für die Europäer.

Angesichts der tiefen Spannungen zwischen den USA und ihren Alliierten hinsichtlich des Iraks mag einem der Vorschlag ziemlich absurd erscheinen, Europa solle in diesem fortgeschrittenen Stadium noch helfend eingreifen. Mehrere europäische Verbündete waren von Anfang an gegen den Krieg. Diejenigen, die ihn zähneknirschend unterstützten, sind inzwischen aus der ,,Koalition der Willigen'' ausgestiegen oder reden darüber, dies bald zu tun. Viele sehen in Präsident Bush heute eine größere Bedrohung der globalen Stabilität als in Iran oder Nordkorea.

Nur wenige Angehörige der politischen Elite in Europa wollen dabei beobachtet werden, wie sie dem Weißen Haus bei der Lösung eines Problems helfen, von dem viele glauben (und dies zutreffenderweise), dass die USA es selbst geschaffen haben.

Doch in Washington gehen die aktuellen Diskussionen inzwischen über Bush hinaus. Das sollte auch in Europa so sein. Die Demokraten im Kongress - also die Gegner des Präsidenten - propagieren den totalen Rückzug der US-Truppen bis zum nächsten Jahr. Sie tun damit genau das, was ein demokratischer Präsident getan hätte, wenn er die Präsidentschaftswahl im Jahr 2004 gewonnen hätte. Und jeder demokratische Präsidentschaftskandidat für 2008 verlangt einen Abzug.

Da die Demokraten entschlossen sind, nicht bis zum Amtsantritt eines neuen Präsidenten im Januar 2009 zu warten, beginnen ihre Führer bereits, Möglichkeiten für mehr internationale Unterstützung zu sondieren (zum Beispiel die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, indem sie kürzlich nach Syrien fuhr, um zu erörtern, ob das Land im Irak helfen könne.)

Doppelt so viele Irak-Flüchtlinge in Europa

Die Europäer können ebenfalls damit rechnen, in den kommenden Monaten immer wieder auf Vertreter der Demokraten zu treffen, in Paris, Berlin, London und an anderen Orten des Kontinents. Deren Botschaft wird eindeutig sein: Amerika zieht sich aus dem Irak zurück.

Natürlich wird es nicht möglich sein, dass sich die USA künftig ganz und gar aus dem Irak heraushalten. Auch die Mehrheit der Demokraten betont, wie wichtig die Bekämpfung des Terrorismus sowie die Begrenzung eines Bürgerkriegs sind. Das muss aber genauso für Europa gelten. Man mag es sich eingestehen oder nicht: Die Zukunft des Irak berührt ebenso das Interesse der europäischen Staaten wie der USA.

Schon aufgrund der Geographie sollte das Gespenst eines amerikanischen Rückzugs dazu führen, dass man sich besonnen mit dem Thema auseinandersetzt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissars wird sich die Zahl der Irak-Flüchtlinge in Europa dieses Jahr vermutlich auf 40000 verdoppeln. Und dies vor jeder förmlichen Entscheidung über einen Abzug der USA - wobei die allgemeine Erwartung darauf hinausläuft, dass der sich abzeichnende US-Truppenabzug die Lage weiter verschlimmern könnte.

Wenn das, was vom Irak noch übrig ist, zusammenbricht, werden die Folgen in der Region verheerend sein. Die Europäer können sich auf zunehmende Instabilität an ihren Grenzen gefasst machen, möglicherweise auch auf zunehmende terroristische Aktivitäten auf ihrem eigenen Territorium - und außerdem darauf, dass jeglicher Funke Hoffnung für einen Friedensprozess im Mittleren Osten erlischt.

Berücksichtigt man die bestehenden Verpflichtungen der europäischen Staaten in der Welt, ihre begrenzten militärischen Kapazitäten sowie die interne Krise der EU wegen des Verfassungsvertrags - was könnten die Europäer also dazu beitragen, um das Debakel im Irak einzudämmen?

Kein Grund, es nicht zu versuchen

Zunächst müssen die politischen Eliten in der EU ihren Bürgern klarmachen, dass ein zusammengebrochener Irak gravierende Konsequenzen für ihre eigene Sicherheit haben wird. Ferner könnte Europa seine diplomatischen Vertretungen dazu nutzen, eine Regionalstrategie mit den Nachbarn des Irak auszuhandeln, besonders mit Iran und Syrien.

Jenseits von Diplomatie und finanzieller Hilfen könnten die Europäer Kapital aus ihren Erfahrungen mit der Ausbildung von irakischen Polizisten und Militärs schlagen und sie ausweiten (sei es im Irak selbst oder aber außerhalb des Landes). Schließlich könnten alle, die jegliches Engagement im Irak für ganz und gar unmöglich halten, eine größere Rolle bei der Stabilisierung und dem Wiederaufbau Afghanistans übernehmen - und damit die Last anderer europäischer Kräfte erleichtern, die in der Lage und willens sind, Truppen für den Irak zu stellen.

Es gibt keine Garantie dafür, dass auch nur eine einzige dieser Initiativen greift. Aber die Tatsache, dass es schwierig werden könnte, ist kein Grund, es nicht zu versuchen. Der Krieg im Irak hat den USA immensen Schaden zugefügt, und ihre Führung wird dadurch auf Dauer mit einem Makel behaftet bleiben.

Doch da sowohl Europäer als auch Amerikaner mit den Folgen leben müssen, haben wir ein gemeinsames Interesse, die Sache hinzukriegen. Wie hat der ehemalige Oberkommandierende der US-Truppen im Mittleren Osten, General John Abizaid, einmal gesagt? Wer im Irak erfolgreich sein wolle, ,,der muss das Problem auf eine internationale Ebene heben''. In diesem Sinne ist die Aussicht auf einen amerikanischen Rückzug kein Zeichen für eine sich abzeichnende Niederlage, sondern vielleicht die letzte Chance für einen Erfolg.

Derek Chollet forscht am ,,Center for a New American Security'' in Washington. 2004 war er außenpolitischer Berater von Bushs Herausforderer John Kerry. Übersetzung: Birgit Weidinger

© SZ vom 21.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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