Außenansicht:Ein Krieg gegen die Existenz Israels

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Aber vielleicht besteht gerade deshalb die Chance, endlich einen umfassenden Frieden im Nahen Osten zu erreichen.

Joschka Fischer

Haifa und Beirut und viele andere libanesische und israelische Städte und Dörfer liegen unter Feuer. Wer hätte das noch vor wenigen Wochen für möglich gehalten? Gewiss war der Aufbau eines sehr großen Potenzials an Katjuscha-Raketen und weiter reichender Lenkwaffen in den Händen der Hisbollah seit langem bekannt.

Israelische Soldaten kämpfen gegen die Hisbollah. (Foto: Foto: dpa)

Und auch die Tatsache, dass es sich bei der Hisbollah um einen Staat im Staate innerhalb Libanons handelt, und dass sie über eine hoch motivierte Privatarmee sowie Terrorstrukturen verfügt, ist alles andere als ein Geheimnis. Die Hisbollah (und nicht die libanesische Regierung und deren Armee) kontrolliert seit dem israelischen Rückzug aus dem Südlibanon die libanesisch-israelische Grenze.

Und obwohl sie in der Regierung in Beirut mehrere Minister stellt und im Parlament in Beirut vertreten ist, folgt die Hisbollah nicht zuerst und vor allem dem libanesischen Staatsinteresse. Sie hängt vielmehr ganz entscheidend von Damaskus und vor allem von Teheran ab, von wo sie auch die meisten ihrer Waffen erhält.

Stellvertreterkrieg im Libanon

Diese Fremdbestimmung der Hisbollah ist die erste und entscheidende Ursache für die gegenwärtige libanesische Tragödie, bei der es sich faktisch um einen "Stellvertreterkrieg" handelt.

Dieser Krieg ist kein Krieg der Araber gegen Israel, sondern ein Krieg der radikalen Ablehnungsfront eines Ausgleichs mit Israel, die sich aus Hamas und Islamischem Dschihad auf palästinensischer Seite, aus Hisbollah im Libanon, Syrien und Iran zusammensetzt.

Die Ablehnungsfront suchte aus drei Gründen die Eskalation: erstens, um dem innerpalästinensischen Druck auf die Hamas zur Anerkennung Israels zu entgehen. Zweitens, um den libanesischen Demokratisierungsprozess zu erledigen. Und drittens, um den sich aufbauenden Konflikt um das iranische Atomprogramm in den Hintergrund zu drängen und dem Westen die "Werkzeuge" für einen möglichen Konflikt zu demonstrieren.

Syrischer Hegemonialanspruch

Die moderaten arabischen Regierungen haben von Anfang an durchschaut, dass es um nichts weniger geht als um einen engeren Hegemonialanspruch (Syrien mit Libanon/Palästina) sowie einen weiteren, regionalen (Iran).

Diese Ansprüche werden auf dem Schlachtfeld des Libanon "stellvertretend" ausgefochten. Israel wird angegriffen und damit instrumentalisiert, die palästinensischen und libanesischen Opfer als Legitimation missbraucht, aber die strategischen Absichten der Akteure im Hintergrund gehen weit darüber hinaus.

Freilich kann sich diese Strategie, bestehend aus einem Angriff auf Israel und einem Krieg im Libanon und Gaza, als Fehlkalkulation erweisen. Durch den Raketenbeschuss von Haifa, der drittgrößten Stadt Israels, wurde eine Grenze überschritten, die weit reichende Konsequenzen haben wird. Es geht ab sofort nicht mehr überwiegend um Territorium, um Rückgabe oder Besetzung, um ein oder zwei Staaten im Nahostkonflikt, sondern nun wird die strategische Bedrohung Israels (und das heißt: seine Existenz als solche) im Vordergrund stehen.

Die Ablehnungsfront hat die israelische Entschlossenheit und Abschreckungsfähigkeit unterschätzt. Sie hat die Unmöglichkeit einer Rückkehr zum Status quo im Libanon bewiesen. Und sie hat die hegemonialen Ansprüche, vor allem Teherans, sichtbar gemacht. Diese Fehlkalkulation wird vor allem dann sichtbar werden, wenn erstens Israel bei dem begrenzten Ziel massiver Abschreckung bleibt und sich nicht in einen Bodenkrieg im Libanon hineinziehen lässt.

Wenn es zweitens im Libanon keine Rückkehr zum Status quo mehr geben wird, sondern mit der Entwaffnung aller Milizen die UN-Resolution 1559 auch mittels der Hilfe der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt wird. Wenn drittens die de facto existierende anti-hegemoniale Koalition zwischen den moderaten arabischen Staaten (unter Einschluss der gemäßigten Palästinenser) in eine ernsthafte Friedensinitiative umgesetzt wird.

Und wenn viertens das Nahost-Quartett, angeführt von den USA, sich endlich dauerhaft und entschlossen für eine solche Lösung engagiert und bereit ist, dafür die politischen, ökonomischen und militärischen Garantien zu liefern.

Israel kommt dabei die Schlüsselfunktion zu. Das Land hat sich zweimal einseitig hinter seine international anerkannten Grenzen zurückgezogen, aus dem Südlibanon und Gaza. Zweimal war Gewalt über die Grenzen hinweg die Antwort. Land für Krieg, und nicht: Land für Frieden, hieß die Antwort. Israels Sicherheit macht in Zukunft eine dauerhafte innere Neuordnung des Libanons und eine wirksame Garantie seiner Unabhängigkeit unverzichtbar.

Entscheidende Karte

Und ist es jetzt - gerade jetzt! - nicht von entscheidender Bedeutung, zu versuchen, die syrische Karte zu spielen, und Präsident Assad den Weg zur Normalisierung zu eröffnen? Israel hält mit dem Golan die entscheidende Karte in der Hand. Ohne Damaskus aber wäre Teheran völlig allein.

Und schließlich die Palästinenser - ein hoffnungsloser Fall? Nein. In den israelischen Gefängnissen hat sich unter führenden palästinensischen Gefangenen ein neuer Konsens zwischen Fatah und Hamas herausgebildet, der von einem Palästina in den Grenzen von 1967 ausgeht.

Auch unter den Palästinensern kann aus dieser Krise ein Mehr an Realismus entstehen, den es zu nutzen gilt. Allerdings wird am entscheidenden Datum des Juni 1967 nichts vorbeiführen (und zwar für beide Seiten), wenn man es ernst meint.

Und Israel selbst? Hat die Erkenntnis einer neuen strategischen Bedrohung nicht ein neues Nachdenken eingeleitet, das in der Zeit nach dem Krieg manche Kontroversen um Gebiete und Siedlungen überholt erscheinen lassen wird? Dieser Krieg richtet sich gegen die Existenz Israels als solchem. Gewinnt daher die strategische und damit regionale Sicherheit in Zukunft nicht eine wesentlich größere Bedeutung?

Chance für den Frieden

Wie also wird Israel seine Sicherheit in Zukunft definieren? Überlegene Abschreckung plus strategische Tiefe durch politische Lösungen plus regionale Sicherheitsarchitektur?

Israel wäre gut beraten, auch die politischen Möglichkeiten dieses Krieges zu nutzen und aus einer Position der Stärke heraus initiativ zu werden: mit einem umfassenden Friedensangebot an all diejenigen, die zur Anerkennung Israels nicht nur in Worten, sondern vor allem in Taten bereit sind und auf dauerhaften Gewaltverzicht setzen.

Think big! Dies gilt aber nicht nur für Israel, sondern auch und gerade für die USA und Europa. Der Krieg eröffnet eine Chance für den Frieden, die nicht vertan werden sollte.

Joschka Fischer, Bundesaußenminister und Vizekanzler von 1998 bis 2005, schreibt exklusiv für Project Syndicate und die Süddeutsche Zeitung.

© SZ vom 26.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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