Außenansicht:"Die SPD braucht eine große Geschichte"

Lesezeit: 8 min

Angesichts des Streits in der Partei über die Agenda 2010 fordern Vertreter der Parlamentarischen Linken wie auch des rechten Seeheimer Kreises eine Weiterentwicklung der Sozialreformen. Ein Grundsatzpapier exklusiv für die SZ: G. Andres, M. Caspers-Merk, G. Erler, S. Kastner, M. Müller und E.-D. Rossmann

Die SPD steckt im Stimmungstief. Basis und Wähler sind verunsichert. Der weitere Kurs scheint unklar zu sein. In dieser schwierigen Situation plädieren wir, Repräsentanten der beiden großen Strömungen in der Bundestagsfraktion, Parlamentarische Linke und Seeheimer Kreis, für eine Weiterentwicklung des Reformprozesses, der unter Gerhard Schröder begonnen wurde.

Wir sind längst nicht immer einer Meinung in allen Fragen sozialdemokratischer Politik. Doch gemeinsam wollen wir ein Zeichen setzen, statt Unterschiede in Formelkompromissen zu verschleiern oder unüberwindlich zu machen.

Mehr als andere Parteien ist die SPD von den tiefen sozialen und ökonomischen Umbrüchen betroffen, die mit der Globalisierung, dem Wandel der Arbeitsgesellschaft und den Änderungen im demographischen Aufbau verbunden sind. Das spiegelt sich in den Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 wider.

Doch die Debatte weist weit darüber hinaus, sie geht um die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft. Und damit um die Frage: Gibt es für eine linke Integrations- und Gestaltungspartei eine Zukunft oder gehört diese den Protestbewegungen von rechts und links, die sich gegen die demokratische Konsensfindung profilieren?

Die SPD war in den vergangenen Jahrzehnten der Garant für Stabilität und Fortschritt. Sie hat den Kapitalismus sozial gebändigt und den Menschen Sicherheit und Wohlstand gebracht. Das war nach Ralf Dahrendorf das "sozialdemokratische Jahrhundert".

Doch das ist Vergangenheit, mit der Globalisierung ist die soziale Frage zurückgekehrt. Sie muss neu beantwortet werden in einer Welt, die von sozialer Ungleichheit, ökologischen Bedrohungen und zunehmenden Verteilungskonflikten geprägt ist.

Reformen dürfen keine Angst machen

Viel zu lange wurde zugelassen, dass Sinn und Inhalt von Reformen entleert, ökonomischen Interessen untergeordnet oder populistisch missbraucht wurden. Reform heißt nicht Anpassung oder Abgrenzung, sondern - wie der Duden definiert - die "planmäßige Neuordnung, Umgestaltung und Verbesserung des Bestehenden". Reformen dürfen den Menschen keine Angst machen, sondern müssen sie motivieren und die Perspektive eines besseren Lebens aufzeigen.

Doch statt sachgerecht über Stärken oder Schwächen, Korrekturbedarf oder Weiterentwicklung der Agenda 2010 zu reden, werden entweder selbst kleine Änderungen als Verrat an der Reformidee diffamiert und zum Machtkampf hochstilisiert oder aber es wird Angst vor weiteren Reformen aufgebaut. Was offenkundig fehlt, ist Deutung und Orientierung.

Lesen Sie weiter, welche Herausforderungen die Politik in Zeiten der Globalisierung zu bewältigen hat

Der Sozialhistoriker Eric Hobsbawm sieht in der Auflösung historischer Kategorien und sozialer Bindungen die größte Gefahr für das europäische Gesellschaftsmodell. Unter dem "Regime der kurzen Frist" (Richard Senett), das den globalen Kapitalismus prägt, leben die Menschen in einer Art permanenter Gegenwart, in der nur das Hier und Jetzt zählt.

Dieser Bindungsverlust wurde durch die Schwächung des Nationalstaates verstärkt. In der "globalen Welt des Tauschs" tritt der "nur private Mensch an die Stelle des sozialen und politischen Menschen" (Alain Tourraine). Da auch er Gemeinschaft und Identität braucht, sucht er seinen Halt oftmals in ethnischen, populistischen oder pseudoreligiösen Ideologien.

Für die Politik ergeben sich daraus drei zentrale Aufgaben: Erstens Entwicklungen frühzeitig begreifen, um Zukunftschancen zu nutzen und Gefahren zu vermeiden. Zweitens den Menschen Sicherheit und Vertrauen geben. Das erfordert ein Gleichgewicht zwischen Ökonomie, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit. Drittens den notwendigen Umbauprozess rechtzeitig sozialverträglich organisieren.

Teilt man die Geschichte der Bundesrepublik in größere Phasen ein, wird deutlich, was das heißt:

Der erste Abschnitt begann nach 1950. Er wurde geprägt von einem sozialen Grundkonsens, der die soziale Marktwirtschaft ermöglichte. Wie in einem Fahrstuhl hob sie unsere Gesellschaft nach oben und eröffnete Wohlstand für alle. Die sozialliberale Koalition von 1969 leitete den zweiten großen Modernisierungsschub ein. Der verkrustete CDU-Staat war zu eng und zu national geblieben. Unter Willy Brandt und Helmut Schmidt kam es zu inneren Reformen, zur europäischen Integration und zur Friedenspolitik. Durch den Ausbau der Infrastruktur, vor allem der Bildungsangebote, wurde der Widerspruch zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut verringert.

Siegeszug der Informationstechnologie

Ende der achtziger Jahre begann eine dritte Phase. Mit dem Zusammenbruch der zweigeteilten Welt, dem Siegeszug der Informationstechnologien und der entfesselten Globalisierung änderten sich die Verhältnisse grundlegend.

Die angelsächsischen economy departments übernahmen das Kommando und entzogen der Deutschland AG den Boden. Der Rheinische Kapitalismus, in dem wir uns eingerichtet hatten, war vorbei. Die neunziger Jahre waren Triumph und Versagen zugleich. Nach der deutschen Einheit waren CDU/CSU und FDP blind gegenüber neuen Herausforderungen. Dafür steht beispielhaft Helmut Kohls törichte Aussage, die Einheit sei "aus der Portokasse" zu finanzieren.

Eine Übersicht über Reformen in allen OECD-Staaten belegt das krasse Versagen in der ersten Hälfte des Jahrzehnts. Während es insbesondere in den skandinavischen Staaten - wie in der Agenda 2010 - zum Umbau der Sozialsysteme und zur "Flexibilisierung" des Arbeitsmarktes nach dem Prinzip "Fördern und Fordern" kam, sonnte sich die Regierung Kohl in der deutschen Einheit und dem Nachfrageschub, der kurzzeitig von ihr ausgelöst wurde.

Lesen Sie weiter, warum die Agenda 2010 besser einen anderen Namen getragen hätte

Die Versäumnisse holten uns schmerzlich ein. Aus dem Vorzeigeland wurde ein Abstiegskandidat. Erst der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder setzte unter ungleich schwierigeren wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen den Prozess der Erneuerung in Gang.

Die Agenda hätte daher eigentlich Agenda 2000 heißen müssen. Dreh- und Angelpunkt waren das Aufbrechen der verhärteten Arbeitslosigkeit - auch durch die Abschaffung von Einzelregelungen, die die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt hatten -, eine umfassende Neuordnung der Arbeitsverwaltung hin zu einem modernen Dienstleister, bei dem die Vermittlung der Arbeitslosen im Vordergrund steht, sowie der Wechsel hin zum aktivierenden Sozialstaat.

Es ging nicht um dessen Abschaffung, sondern um seine Modernisierung. Beispiele dafür sind die Einbeziehung erwerbstätiger Sozialhilfeempfänger in das neu geschaffene Arbeitslosengeld II und die Beendigung der üblichen Praxis der Frühverrentung.

Für den zweiten Teil, den Aufbau einer sozialökologischen Marktwirtschaft und modernen Wissensgesellschaft, blieb kaum Zeit. Während auch hier andere Länder ihre Etats für Forschung, Entwicklung und Bildung bereits kräftig erhöht hatten, leitete erst Rot-Grün eine Trendwende ein, ebenfalls die ökologische Umgestaltung nach Jahren der Ignoranz - mit Öko-Steuer, dem Gesetz zu Erneuerbaren Energien oder dem Atomausstieg.

Zudem traf die Agenda dort, wo sie "Sicherheit im Wandel" (Franz Müntefering) wollte, auf den massiven Widerstand der konservativen Mehrheit im Bundesrat. Ihr Wortführer, Hessens Ministerpräsident Roland Koch, zündelte, indem er die Demontage des Sozialstaates zum Sozialhilfestaat forderte, viel weiter gehend als Angela Merkel und Edmund Stoiber.

Lesen Sie weiter, warum der Reformprozess weitergehen muss

Der erste Schritt ist gemacht, doch der Reformprozess muss weitergehen. Wir befinden uns zwar derzeit in einer Phase der Konsolidierung, aber es besteht kein Anlass zur Zufriedenheit. Die Einbrüche auf den angelsächsischen Immobilienmärkten sind ein bedrohliches Wetterleuchten. Und ohne auf die Regeln der Marktwirtschaft zu achten, verschärft sich weltweit die Konkurrenz.

Gegen deren soziale und ökologische Folgen können wir uns nur durch eigene Stärke behaupten. Mehr noch: Vieles deutet darauf hin, dass mit dem Klimawandel, den Verteilungskonflikten um knappe Ressourcen und der Industrialisierung großer, bevölkerungsreicher Erdregionen ein neuer Sturm aufzieht.

Diese Herausforderungen werden die nächsten Jahre prägen, eröffnen aber gerade unserem Land große Möglichkeiten, wenn wir heute zu Reformen kommen. Dafür lässt sich der bisherige Modernisierungspfad jedoch nicht fortsetzen. Er baut nicht nur auf nationalstaatlicher Kompetenz auf, die immer weniger gegeben ist, sondern auch auf einem Wachstum, das auf "unserer überbevölkerten, ungleichen und verschmutzten Erde" (UN-Brundtland-Bericht) in eine Katastrophe führt.

Im Entwurf des neuen SPD-Grundsatzprogramms wird die Alternative beschrieben: Entweder wird das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Nachhaltigkeit oder ein Jahrhundert von Ausgrenzung, Gewalt und Niedergang. Europa würde zerbrechen, wenn seine Zukunft allein Markt und Kapital überlassen bliebe. Kurz: Nicht weniger, sondern mehr Reformpolitik ist notwendig.

Vor diesem Hintergrund muss die Agenda 2010 immer wieder überprüft, vor allem aber fortentwickelt werden. Schröders Begründung von 2003 bleibt richtig: "Die Welt verändert sich in rasender Geschwindigkeit. Entweder wir modernisieren - und zwar als soziale Marktwirtschaft - oder wir werden modernisiert - und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, der das Soziale beiseite drängt."

Der Economist hat diese Aufgabe bereits 1930 beschrieben: "Das größte Problem jeder Gesellschaft besteht darin, dass die Erfolge auf ökonomischer Ebene die Erfolge auf politischer Ebene dermaßen übertreffen, dass Wirtschaft und Politik nicht miteinander Schritt halten. Ökonomisch ist die Welt eine umfassende Handlungseinheit, politisch ist sie zerstückelt geblieben. Die Spannung zwischen diesen beiden gegensätzlichen Entwicklungen lösen reihenweise Erschütterungen und Zusammenbrüche im gesellschaftlichen Leben aus."

Ein dreiviertel Jahrhundert später knüpft der Friedensnobelpreisträger Al Gore an diese Analyse an, wenn er die wachsende "Dysfunktionalität" als die größte Herausforderung unserer Zeit beschreibt.

Lesen Sie über das Alleinstellungsmerkmal der SPD

Die Agenda war - unbeschadet der Bewertung einzelner Maßnahmen - ein schmerzlicher Zwischenschritt auf dem Weg zu einer sozialökologischen Marktwirtschaft. Sie hat den Selbstbetrug beendet, wir lebten noch in gesicherten Verhältnissen. So bitter einzelne Verluste und Einschnitte auch sind, für die Beurteilung des Gesamtprozesses reichen solche Rechnungen nicht aus.

Ohne die politisch-historische Einordnung bleibt die Agenda 2010 der Streitpunkt in der Partei und mit den Gewerkschaften - und beide verlieren. Uns lässt die Debatte nicht los, wenn wir sie nicht in einem Gesamtzusammenhang mit weiteren Reformschritten bewerten.

Die SPD muss sich als moderne, linke Gestaltungspartei an die Spitze nachhaltiger Reformen stellen. Gestalten heißt verändern - und zwar rechtzeitig. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb der Parteien. Allerdings kennzeichnet eine gewisse Unbestimmtheit, Zögerlichkeit und Angst auch einige Teile der Sozialdemokratie.

Wir, die Autoren, sind uns einig: Die SPD muss die linke Gestaltungspartei in Deutschland bleiben - ohne Unterschied in der Regierung oder als Partei. Weiter gehende Gestaltungsziele können nur erreicht werden, wenn die SPD auch in der Großen Koalition erfolgreich ist.

Eine "Sonthofen-Strategie" ist verantwortungslos

Es gibt keinen Grund, das Feld dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsident Jürgen Rüttgers zu überlassen, der sich den Schein des Sozialreformers geben will, aber in seinem Bundesland mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten zur Desintegration der Gesellschaft beiträgt. Übrigens der gleiche Rüttgers, der als Zukunftsminister unter Kohl versagt und Deutschland den Rückstand bei Forschung und Entwicklung eingebrockt hat, den Rot-Grün erst wieder mühsam aufholen musste.

Oder den Talkshowsozialisten Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, die nur Polemik und Protest kennen und mit Populismus gegen besseres Wissen brillieren wollen. Sie markieren den Unterschied zwischen Protestlinken und Gestaltungslinken. Die ersten suchen den Schein, die zweiten Lösungen und brauchen den langen Atem.

Die konservative Protestlinke muss jedoch die Frage beantworten, was passiert wäre, wenn Schröder unter dem Druck von Beschäftigungskrise und Wirtschaftsflaute nichts getan hätte. Eine "Sonthofen-Strategie" nach dem Motto "Es muss alles noch viel schlechter werden, damit wir Erfolg haben" ist verantwortungslos.

Sozialdemokratische Politik braucht - wie der Sozialstaat - eine große Geschichte, die den Weg zu einem guten und gelungenen Leben für alle aufzeigt.

Tatsächlich hat der Wettbewerb zwischen dem postliberalen Kapitalismus und der sozialen Demokratie, die nicht nur die individuelle Freiheit fördert, sondern sie in mehr Teilhabe, soziale Gerechtigkeit, Ökologie und faire Partnerschaft einbettet, längst begonnen.

Lesen Sie weiter, welche zentralen Aufgaben bewältigt werden müssen, um Zukunft zu gestalten

Der entscheidende Unterschied liegt im Verhältnis zur Ökonomie, denn die soziale Demokratie setzt auf eine politische Gestaltung der Märkte, nutzt den öffentlichen Sektor für eine gerechte Verteilung der Chancen und stärkt Freiheit und Zivilgesellschaft.

Die SPD muss dazu die große Idee der Nachhaltigkeit zur Leitlinie der deutschen und europäischen Politik machen. Diese Programmatik geht auf Olof Palme, Willy Brandt und Gro Harlem Brundtland zurück. Sie gibt eine Antwort, wie ökonomische Innovationskraft, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verträglichkeit miteinander verbunden werden.

Drei zentrale Aufgaben

Sie übernimmt Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft, statt sich in Kurzfristigkeit zu verlieren. Sie grenzt sich damit grundsätzlich von der heute dominierenden Wirtschaftsverfassung ab und gibt unserem Land eine Reformidentität, die in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft steht. Sie ist emanzipatorisch, bändigt die entfesselte Ökonomie durch soziale Regeln, beendet den Jahrhundertfehler, Wohlstand und Beschäftigung mit der Ausbeutung der Natur zu bezahlen, und wirkt aktiv an einer friedlichen und gerechten Weltordnung mit.

Im Zentrum stehen drei Aufgaben: Erstens beim Megathema Innovationen, Forschung und Entwicklung, wo die Aufwendungen auf mindestens vier Prozent wachsen müssen. Zweitens ein europäisches Sozialstaatsmodell, das echte Chancen gibt: Kein junger Mensch ohne Schul- und Berufsschulabschluss. Kein Mensch in Arbeitslosigkeit ohne Möglichkeit zur Qualifizierung. Aufstieg durch Leistung muss ein reales Versprechen werden. Der vorsorgende Sozialstaat muss den fürsorgenden ergänzen. Wer Menschen nur zum Empfänger von Sozialtransferleistungen macht, gestattet ihnen keine gleichberechtigte Teilhabe.

Und drittens Investitionen in ein qualitatives Wachstum, insbesondere in die ökologische Modernisierung. Das sind unsere gemeinsamen Ziele, um eine Legitimationskrise der Demokratie zu verhindern.

© SZ vom 25.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: