Arm sein in Deutschland:"Es reicht einfach nicht"

Lesezeit: 2 min

Arm trotz zweier Hochschulabschlüsse: Wie eine alleinerziehende Mutter und Freie Autorin versucht, mit 600 Euro im Monat durchzukommen.

Charlotte Frank

Dass sie kein Geld für neue Klamotten hat und sich Kino- und Theaterbesuche nicht mehr leisten kann, sei Gewöhnungssache, sagt Anne Jensen. Auch das ewige Rechnen im Supermarkt und den Verzicht auf Urlaub findet sie längst nicht das Schlimmste am Armsein.

Stichwort alleinerziehend: Man kann auch mit zwei Uniabschlüssen am Rande der Gesellschaft stehen. (Foto: Foto: ddp)

"Richtig weh tut die Armut erst in Momenten, in denen ich merke, dass ich meinen Sohn nicht so fördern kann, wie ich will", erklärt sie. Das war damals beim Babyschwimmen so, vor drei Jahren, als sie die sieben Euro wöchentliche Kursgebühr nicht aufbringen konnte. Oder jetzt, wo es in der Kita um musikalische Früherziehung geht. "Das sind so Situationen, in denen ich richtig schlucken muss", sagt sie.

Schließlich arbeitet sie ja für ihr Geld, mindestens 30 Stunden die Woche, obendrein mit zwei abgeschlossenen Hochschulstudien in ihrem Lebenslauf. "Aber es reicht einfach nicht", sagt Anne Jensen, alleinerziehende Mutter und freie Autorin aus Hamburg. Die 38-Jährige, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, ist arm: Nach Abzug der Miete haben sie und ihr dreijähriger Sohn knapp 600 Euro im Monat zum Leben - und das auch nur, weil sie staatliche Unterstützung, Kindergeld und Unterhaltszahlungen bezieht.

Dabei hatte Jensens Karriere so gut angefangen: Ihr Politik-, Soziologie- und Philosophiestudium hatte sie mit Auszeichnung abgeschlossen, später bekam sie einen von gerade mal sechs Plätzen an der Hamburger Filmhochschule. Von dort wurde Jensen sofort engagiert: Sie schrieb den Plot für eine bekannte Telenovela und erfand das Drehbuch für eine große öffentlich-rechtliche Filmproduktion. "Alles lief gut - bis ich überraschend schwanger wurde, der Mann mich verließ und ich als Alleinerziehende meinen Job aufgeben musste", fasst Jensen ihre Geschichte zusammen. "Und dann versuchen Sie mal, nach zwei Jahren Auszeit in dieser Branche wieder Fuß zu fassen."

Jensen versucht das gerade, aber so richtig will es nicht funktionieren. Sobald sie ihren Sohn morgens in die Kindertagesstätte gebracht hat, setzt sie sich an den Schreibtisch und erfindet Serien, Drehbücher und Geschichten, verfasst Exposées, Plotvorschläge und Bewerbungsschreiben, betreibt Akquise, berät sich mit ihrer Agentin. Ein komplettes Serienkonzept hat Jensen bereits geschrieben, es liegt fertig in der Schublade, "aber bis so etwas verkauft ist, können Jahre vergehen", erklärt sie. So lange muss sie sich mit kleinen Jobs über Wasser halten und weiter für wenig Geld viele Ideen produzieren. Und mit der Armut leben.

"Am stärksten gewöhnen musste ich mich an die Abhängigkeit", erinnert sie sich. Nachdem die Autorin jahrelang erfolgreich gearbeitet und davon komfortabel gelebt hatte, muss sie nun plötzlich für alles fragen und um Hilfe bitten: die Eltern, den Ex-Partner, die Behörden. "Man kann sich gar nicht vorstellen, wie unfrei Armut macht", sagt sie.

Vieles konnte sie sich nicht vorstellen, bevor sie von anderen abhängig wurde - auch nicht, dass auf dem Amt "scheinbar zwischen guten und schlechten Hartz-IV-Empfängern" unterschieden wird. Sie selbst gehöre zu den guten Bedürftigen, vermutet Jensen, jedenfalls würden ihre Sachbearbeiter immer schlagartig etwas freundlicher, sobald sie in der Akte ihren Bildungshintergrund sehen. Freuen kann sie sich über dieses Privileg aber nicht - im Gegenteil: "Es zeigt mir, dass sich jeder ein Urteil über mich erlaubt, seitdem ich arm bin."

© SZ vom 20.05.2008/dgr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: