Appell an Regierung:Geeint durch eine Sorge

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Europa – nur noch ein Schatten seiner selbst? Eine Koalition aus Politikern und Wissenschaftlern macht sich Sorgen um die Zukunft der Gemeinschaft. (Foto: Toby Melville/Reuters)

Eine ungewöhnliche Koalition startet einen Europa-Aufruf - und kritisiert damit die Politik der großen Koalition.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Kennt noch jemand Friedrich Merz und Hans Eichel? Roland Koch und Jürgen Habermas? Bert Rürup und Brigitte Zypries? Sie hatten sich alle nach einem Leben in der deutschen politischen Landschaft in den Ruhestand verabschiedet. Inzwischen ist Verzweiflung über die Europapolitik der Koalition aus CDU, CSU und SPD, also der Parteien, denen sie angehören oder mit denen sie sympathisieren, so groß, dass sie wieder mitmischen wollen. Am Montag startete die ungewöhnliche Koalition einen gemeinsamen Europa-Aufruf. "Es ist höchste Zeit", schreiben die Politiker aus CDU und SPD, der Wirtschaftswissenschaftler und der Philosophieprofessor im Handelsblatt, mit dem im Koalitionsvertrag vereinbarten "neuen Aufbruch für Europa" zu beginnen. Es lasse schon "tief blicken", sagte Franziska Brantner, Europa-Expertin der Grünen im Bundestag der SZ, "dass sich hier Politiker der beiden Parteien versammeln, die gerade gemeinsam in Berlin regieren und die den Aufbruch für Europa zwar als Motto gewählt haben, aber nicht als Programm".

In "tiefer Sorge um die Einigung Europas und die Zukunft Deutschlands" hoffen die Erstunterzeichner des Aufrufs, der binnen weniger Stunden nach Veröffentlichung schon mehr als 100 Unterschriften hatte, dass sie die Debatte über Europa in Deutschland weiter beleben können. Wie schon bei der riesigen Demo am vorvergangenen Wochenende in Berlin sowie der Anti-Brexit-Demo vergangenes Wochenende in London, bei denen Hunderttausende auf die Straßen gingen, gewinnen die Befürworter Europas wieder an Zuspruch.

Was die Autoren verbinde, sei, "dass sie Europa unter dem frühen Kanzler Helmut Kohl kennengelernt haben", sagte Eichel, einst Finanzminister unter Gerhard Schröder (SPD) der SZ. Kohl habe das vereinte Europa nach dem Krieg mit 55 Millionen Toten vorangebracht, es sei die Generation gewesen, die für das Friedensprojekt gekämpft habe. Für Kohl sei es klar gewesen, dass Deutschland eine Friedensdividende zahlen müsse. "Wir wollen rechtzeitig vor den Europawahlen möglichst viele Bürger mobilisieren", sagte Eichel.

Aktive Politiker aus der Bundesregierung oder auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sind unter den Unterzeichnern bisher nicht zu finden. Die große Koalition ließ am Montag nicht erkennen, was sie von dem Aufruf hält. Eine Sprecherin von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte, die Koalition sei ohnehin proeuropäisch ausgerichtet.

Es ist ungewöhnlich, dass Mitglieder der Regierungsparteien den eigenen Leuten vorwerfen, den Koalitionsvertrag nicht zu erfüllen. Die Untätigkeit verstärke die Gefahr, in die Europa geraten sei, heißt es in dem Aufruf. "Im Innern Europas breitet sich wieder Nationalismus aus und Egoismus ist die vorherrschende Haltung - als vergäßen wir gerade wieder alles, was die vorherige Generation aus der Geschichte gelernt hat." Darauf könne es nur eine Antwort geben, Solidarität und Einigkeit und gemeinsame Souveränität nach außen. Die Autoren fordern, mit dem Aufbau einer europäischen Armee zu beginnen. "Nicht mehr Geld dafür ist nötig - die europäischen Nato-Mitglieder geben etwa dreimal so viel für Verteidigung aus wie Russland -, sondern eine Überwindung der verteidigungspolitischen Kleinstaaterei".

Viel Platz räumen sie der Euro-Zone als "Kern der europäischen Einigung" ein. Sie sei nicht krisenfest, "weiteres Durchwursteln" sei "nicht zu verantworten". Der Euro fördere den Warenverkehr über alle Binnengrenzen und verhindere spekulative Angriffe, weil er einen riesigen Wirtschaftsraum repräsentiere. Wichtig sei, die Folgen der Geldpolitik, die sich am Durchschnitt der Euro-Zone orientiere, durch geeignete Transfers in den Sozialsystemen oder über einen Finanzausgleich zu mildern. Es werde etwas gebraucht, um die Staaten zusammenzuführen. "Die Gründungsväter Europas, zu denen Konrad Adenauer gehörte, wussten, dass die europäische Einigung nur gelingen kann, wenn die Wohlstandsunterschiede nicht zu groß sind."

© SZ vom 23.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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