Antrittsbesuch in Washington:Merkels Trauma

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Wenn Angela Merkel heute in die USA reist, fliegt sie als "Wer hätte das gedacht?"-Kanzlerin. Sie hat Condoleezza Rice die Stirn geboten und das US-Gefangenenlager Guantanamo kritisiert. Aber eigentlich kann sie gar nicht anders.

Nico Fried

Am 11. Januar 2002 landete der erste Gefangenentransport auf Guantanamo. Exakt vier Jahre sind seither vergangen, und aus dieser langen Zeit ist von Angela Merkel nicht ein öffentlicher Satz archiviert, in dem sie sich kritisch über die Zustände auf dem US-Stützpunkt geäußert hätte.

Erst jetzt, kurz vor ihrem Trip nach Washington, hat die Kanzlerin erklärt, das Gefangenenlager Guantanamo könne und dürfe "auf Dauer so nicht existieren".

Im allgemeinen Wohlwollen, das Merkel derzeit genießt, wurde dies als Forderung überinterpretiert, das Lager umgehend zu schließen. Glücklich eine Kanzlerin, die auf so vorteilhafte Weise missverstanden wird.

Wenn Angela Merkel heute gen Westen abhebt, fliegt sie jedenfalls als "Wer hätte das gedacht?"-Kanzlerin. Sie hat US-Außenministerin Condoleezza Rice beim Thema CIA-Flüge die Stirn geboten und mit der Kritik an Guantanamo sogar ihrer Begegnung mit dem Präsidenten eine kleine Unfreundlichkeit vorausgeschickt.

Wer hätte das gedacht von einer Frau, die es vor dem Irak-Krieg für angemessen hielt, beim großen Feldherrn George W. Bush ihr Bedauern über die Unbotmäßigkeit des niederen Dienstgrades Gerhard Schröder auszudrücken?

Überwindung eines politischen Traumas

Mit Verve richtet Merkel ihre ersten transatlantischen Aktivitäten darauf aus, ein politisches Trauma zu überwinden: den Ruf der Unterwürfigkeit gegenüber der Regierung Bush. Schon im Wahlkampf hat sie die obligatorische Reise nach Washington sausen lassen, um die negativen Erinnerungen der meisten Deutschen an ihren letzten Besuch nicht zu verstärken.

Tapfer behauptet sie seit Monaten, einen Einsatz deutscher Soldaten im Irak habe sie stets ausgeschlossen, was schlicht nicht stimmt. Und nun betont sie in der kritischen Partnerschaft mit den USA die Kritik in einem Maße, das dem Begriff der Kontinuität deutscher Außenpolitik eine völlig neue Bedeutung gibt.

Gerhard Schröders Umgang mit den USA oszillierte zwischen extremen Ausschlägen. Nach dem 11. September rief er die uneingeschränkte Solidarität aus, mit der sich Schröders Regierung - wie man seit der CIA-Affäre weiß - in Grauzonen des Anti-Terror-Kampfes von Syrien bis Guantanamo hineinziehen ließ.

Die jüngsten Enthüllungen über BND-Aktivitäten im Irak während des Krieges weisen auf eine noch tiefere Verstrickung in diese Grauzonen hin, zumal da die Spuren bis ins Kanzleramt führen. Der Widerstand des Kanzlers gegen den Irak-Krieg wurde, so richtig er außenpolitisch war, im Wahljahr 2002 auch vom innenpolitischen Kalkül befeuert.

Das führte zu Auswüchsen, die das deutsch-amerikanische Verhältnis schwer beschädigten. In der Folgezeit schaute die rot-grüne Regierung, wie man seit dem Entführungsfall El-Masri weiß, auch mal weg, wenn es opportun erschien, die Aufräumarbeiten nicht zu behindern.

Deutsch-amerikanische Lehrjahre unter Kohl

Angela Merkel absolvierte ihre deutsch-amerikanischen Lehrjahre unter Helmut Kohl. Nach dem politischen Vatermord, der sie an die Spitze der CDU führte, musste sie wohl auch wegen ihrer ostdeutschen Herkunft gegenüber Washington besondere Treue zeigen, nicht zuletzt, um in der eigenen Partei außenpolitisches Vertrauen zu gewinnen.

Es war eine Beweispflicht, bei deren Erfüllung sie sich in einen der größten Irrtümer ihrer Laufbahn manövrierte.

Natürlich gilt für Merkels bemerkenswerte Kurskorrektur: Besser jetzt als nie. Aber wahr ist auch, dass sie eigentlich gar nicht anders kann.

Lug und Trug vor dem Irak-Krieg, das opferreiche Debakel nach dem Feldzug und die Grenzüberschreitungen im Anti-Terror-Kampf haben selbst die Gewissheit jener erschüttert, die einst fest an der Seite Washingtons standen.

Statt eines alten und eines neuen Europa erlebte Außenministerin Rice vor einigen Wochen nur noch ein Europa voller Fragen zu den Aktivitäten der CIA, die bis heute nicht beantwortet sind.

Auch innenpolitisch befindet sich die US-Regierung gegenwärtig im rasanten Niedergang. Das Befremden in Europa - und in den USA - über das System Bush wird immer größer. Merkel aber marschiert hier nicht an der Spitze der Bewegung. Sie läuft im hinteren Teil des Feldes und ist darum bemüht, den Rückstand aufzuholen.

Der fast hilflose Zustand der US-Regierung macht es Merkel leicht, mit ihrer Kritik innenpolitisch zu punkten, ohne sich außenpolitisch Schaden zuzufügen, zumal die Kanzlerin jetzt wohl die wichtigste Ansprechpartnerin der USA in Europa sein wird.

Blair und Chirac gehen der Abenddämmerung ihrer Regierungszeit entgegen. In Italien kämpft Silvio Berlusconi ums politische Überleben, in Spanien regiert mit Manuel Zapatero längst ein amerikakritischer Geist.

Zugleich aber droht in Nahost das Ende eines Friedensprozesses, der noch gar nicht richtig angefangen hat. Und im Iran macht sich ein wahnwitziger Präsident daran, die Grenzen seiner Macht zu testen. Europa und die USA werden diese Probleme nur gemeinsam lösen können.

Berlin kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Angela Merkel wird in den Beziehungen zu den USA eine Balance finden müssen aus politisch zwingend erforderlicher Nähe und kritischer Distanz. Wenn sie das hinbekommt, darf man mit Recht fragen: Wer hätte das gedacht?

© SZ vom 12.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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