Antrittsbesuch in der Türkei:Merkels heikle Mission

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Die Kanzlerin ließ nie einen Zweifel daran, dass sie die Türkei nicht in der Europäischen Union sehen möchte. Heute reist sie nach Ankara - in einer Zeit der tiefen Krise.

Ein Kommentar von Kai Strittmatter

Welchen Unterschied ein Jahr ausmacht. Vor zwölf Monaten besuchte Gerhard Schröder die Türkei. Gerade hatte die EU sich durchgerungen, Ankara Beitrittsverhandlungen anzubieten, und die Türken bedankten sich überschwänglich beim deutschen Kanzler, ohne dessen Unterstützung sie vielleicht gar nicht so weit gekommen wären.

Heute empfängt Premier Tayyip Erdogan Angela Merkel, die Frau, die nie Zweifel daran ließ, dass sie die Türkei nicht in der EU, sondern allenfalls als "privilegierten Partner" der Union sehen möchte - ein Ansinnen, das in Ankara als beleidigend empfunden wird.

Als Kanzlerin der großen Koalition hat Merkel offiziell zwar Neutralität gelobt und der Türkei versprochen, die Verhandlungen würden "ergebnisoffen" zu Ende geführt. Jetzt aber besucht sie die Türkei auch noch zu einem besonders kritischen Zeitpunkt.

Eigentlich sind Beitrittsverhandlungen dazu gedacht, die Kluft zwischen den Gesprächspartnern kleiner zu machen. Zwischen der EU und der Türkei aber passiert derzeit genau das Gegenteil: Der Abstand wächst. Schuld daran sind beide Seiten.

Politische "Zwerge"

Es scheint, als werde dies wiederum - sowohl in Europa als auch in der Türkei - nur noch zu innenpolitischen Spielchen genutzt. Der liberale türkische Kolumnist Mehmet Ali Birand schrieb, er sehe im Moment nur politische "Zwerge" am Werk: ohne Vision, im Blick nur den tagespolitischen Gewinn, eifrig dabei den Nationalisten in die Hände arbeitend.

In Europa ist heute Furcht und Verzagtheit eingezogen, was jede neue Erweiterung der Union angeht. Die europäischen Türkeigegner fühlen sich stärker als zuvor. Anstatt jedoch offen Position zu beziehen, verstecken sie sich hinter dem mühseligen Streit um das geteilte Zypern oder bringen neue Forderungen auf den Tisch: Paris verlangte jetzt die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern vor einem EU-Beitritt.

In der Türkei wiederum trägt die Enttäuschung über das als unfair empfundene Lavieren vieler EU-Staaten zum jähen Erkalten der Europa-Euphorie bei. Gleichzeitig erweckt die Regierung Erdogan im Moment nicht wirklich den Anschein, als läge ihr noch viel an Europa: Praktisch alle von der EU geforderten Reformen hat sie auf Eis gelegt.

Neue Rolle der Armee

Ihr Europa-Koordinator Ali Babacan ist unsichtbar, ihre Verteidigung des Paragrafen 301, der die "Verunglimpfung des Türkentums" bestraft, ist ein Trauerspiel, und ihr jüngstes Reformpaket hat sie sich von der Opposition so verstümmeln lassen, dass es kaum noch den Namen verdient.

Im nächsten Jahr sind Wahlen. Das erklärt, warum Erdogan lieber den starken Nationalisten hervorkehrt als den liberalen Europäer, entschuldigt es aber nicht.

Zu allem Überdruss mischt sich nun die Armee auch wieder in die Politik ein - ironischerweise, weil sie fürchtet, die islamischen Neigungen der Regierungspartei AKP könnten die Oberhand gewinnen über ihre Lust auf Europa. Dabei entfremden die Militärs mit ihrem Tun die Türkei noch mehr von Europa.

All das spielt jenen in die Hände, die sich offenbar danach sehnen, dass es noch vor Jahresende zu einer schweren Krise in den Verhandlungen kommt. Für die deutsche Diplomatie wäre dies ein Graus: Am 1. Januar beginnt die deutsche EU-Präsidentschaft. Berlin bekäme dann gewiss die Schuld für eine neue Eiszeit zwischen Europa und der Türkei.

Einige Parteifreunde Merkels scheint dies nicht zu stören. Sie ermuntern die Kanzlerin geradezu, über einen Abbruch der Gespräche mit der Türkei nachzudenken. Dies ist erstaunlich angesichts von fast drei Millionen Türken, die in Deutschland leben.

Erstaunlich ist es auch angesichts der Tatsache, dass gerade der Libanonkrieg und die Beteiligung der Türkei an der internationalen Friedenstruppe dort wieder einmal gezeigt haben, wie sehr der Westen Ankara als Partner und Mittler zur Welt des Islam und des Mittleren Ostens braucht.

© SZ vom 5.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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