Angela Merkel im Großangriff auf die Trübsal der Union:Eine Frau entdeckt den Wärmeleiter

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Männermörderin, Jeanne d'Arc, Kohls Mädchen oder Mutter Oberin? Beim Parteitag in Düsseldorf zeigt sich die CDU-Chefin von einer neuen Seite. Oder anders ausgedrückt: "Sie wirft die Emotionsmaschine an".

Von Susanne Höll

Acht Minuten und ein paar Sekunden. So lange halten die 1000 Christdemokraten durch beim Applaus für ihre Vorsitzende Angela Merkel, wohl wissend, dass die Zeit des Beifalls wieder einmal genau gemessen werden wird, interpretiert als Signal für das Verhältnis zwischen Partei und Chefin.

Kein "Bravo" oder "Hurra" - CDU-Chefin Merkel nach ihrer Rede in Düsseldorf. (Foto: Foto: dpa)

Etwas mühselig klingen die letzten Minuten dieses Applauses, der von den Vorstandsbänken auf dem Podium der Düsseldorfer Messehalle gelenkt wird und den Vertraute Merkels anschließend als erstaunlich lang werten, im positiven Sinne natürlich.

Auf der rechten Saalseite versuchen einige übermuntere Niedersachsen nach Art von Fußball-Fans eine Laola-Welle, die jedoch schnell in sich zusammenbricht. Mit den Füßen trampelt niemand, keiner ruft Bravo oder Hurra.

Nein, übermäßig begeistert sind die Delegierten offenkundig nicht von der Rede ihrer Vorsitzenden, die sie diesmal in einer ungewohnten Rolle erleben. Die, die da im schwarzen Hosenanzug vor den königsblauen, an Eisberge gemahnenden Deko-Zacken steht, ist eine außergewöhnlich persönliche Angela Merkel, nun ja, vielleicht der Versuch einer außergewöhnlich persönlichen Angela Merkel.

Die spricht, anders als so oft bei anderer Gelegenheit, nicht so sehr die Köpfe der Menschen an, sondern eher die Herzen, die Seelen, wenn man so will: die Bäuche.

Damals in Templin

Wenn sie von Familie redet, erzählt sie von ihrem eigenen Elternhaus, in Templin in der Uckermark, dem Hort, ohne den sie, wie sie sagt, "den Sozialismus nicht überlebt hätte". Sie erzählt, wie sie sich bei der Mutter nach der Schule ein oder zwei Stunden lang alles "abgesprochen" habe, was ihr auf der Seele lag.

Sie erzählt, wie sie als DDR-Bürgerin in Prag, in Budapest oder anderswo von gutherzigen Westdeutschen zu einer Tasse Kaffee eingeladen und mitleidig angeschaut worden sei, wegen DDR, Mauer und so. Sagt, dass einer ihrer Träume wahr geworden sei, die deutsche Vereinigung, spricht von Gottvertrauen, findet, dass Heimat mehr sei als eine "Bio-Gurke aus dem Spreewald", und freut sich nach eigenen Worten schon jetzt auf den Tag, an dem ein Kabinett vereidigt wird, "bei dem die Minister ihren Eid wieder auf Gott schwören".

Der Saal versteht: das kann nur eine unionsgeführte Bundesregierung sein. Und freut sich auch ein wenig und applaudiert.

Die Düsseldorfer Angela Merkel schmeichelt der Partei, diesmal auf der konservativen Schiene. Keine aktive Sterbehilfe, Klonverbot, mehr Respekt für die Familie und für die Mütter, Deutschland als Partner Amerikas, Helmut Kohl, der Einheitskanzler, Werte wie Verlässlichkeit und Ehrlichkeit - das ist der Stoff der großen Parteitagsrede, mit der sie die Delegierten für sich einzunehmen versucht.

Individuelles Schmeicheln

Und sie schmeichelt auch individuell: jeder, der etwas zu sagen hat in der Partei im Bund oder in den Ländern, wird persönlich angesprochen: der JU-Vorsitzende Philipp Missfelder, die Vertriebenen-Chefin Erika Steinbach, die Ministerpräsidenten der Länder und jene, die es werden wollen, ihr scheidender Widersacher Friedrich Merz, selbst der derzeit allseits unbeliebte Vorsitzende der CDU-Arbeitnehmerorganisation CDA, Hermann-Josef Arentz, von dem noch zu reden sein wird.

Nur ein Name fällt nicht: der von Wolfgang Schäuble, ihres Vorgängers, der gerne Bundespräsident geworden wäre, es aber nicht durfte. Aber das wird wohl nur ein Versehen gewesen sein...

Und Angela Merkel bittet um Unterstützung. "Ich brauche die Hilfe der ganzen Partei", sagt sie. Merz, der - zumindest vorerst - ein letztes Mal auf der Vorstandsbühne sitzt, lächelt, als er das hört. Wozu sie Hilfe braucht, muss die Rednerin nicht sagen.

Das verstehen die 1000 im Saal ganz genau.

"Natürlich bekommt sie ein gutes Ergebnis bei der Wiederwahl", sagen Merkel-Anhänger nach der Rede - als ausgezählt wird, ist das Resultat jedoch nicht sonderlich gut, passabel allenfalls und ehrlicher, als manche Hofjubler zuvor prophezeit hatten.

Keine politische Botschaft

Auch dass sie gut geredet habe, sagen die Wohlmeinenden, können freilich nicht so genau erklären, warum. Die Kritiker sind präziser. "Verkleidet" habe diese so persönliche Angela Merkel gewirkt, sagt einer, der die Vorsitzende recht gut kennt. Dass er keine politische Botschaft gehört habe, bemerkt ein anderer, der ziemlich wichtig ist in der deutschen Politik.

Wieder andere bedauern, dass sie nicht bissiger war, in Richtung Regierung natürlich: "Die Menschen müssen beim Parteitag auf den Tischen stehen und trampeln, sonst gewinnen wir die Wahlen nie." Nur CSU-Generalsekretär Markus Söder kann kurz, knapp und selbstbewusst begründen, warum er die Rede Merkels gut fand. "Weil das drin war, was wir angestoßen haben: Patriotismus, Heimat, Werte."

Patriotismus, das ist ein neues Zauberwort der CDU, auch wenn die Vorsitzende es in Düsseldorf an diesem Montag sparsam verwendet, äußerst sparsam. Vor einem Jahr, in Leipzig, bei diesem euphorietrunkenen Parteitag, auf dem die Christdemokraten die Chefin und sich selbst im Taumel gefeiert hatten, lautete das Zauberwort noch Reform.

Man erinnert sich: die damals als Jahrhundertprojekt gepriesene Gesundheitsprämie, der Steuerbierdeckel von Friedrich Merz. Bärenstark fühlten sich die Christdemokraten damals, allen überlegen, der rot-grünen Konkurrenz sowieso und der CSU natürlich auch. Das Kanzleramt schien in Reichweite, Kabinettsposten wurden verteilt, Staatssekretärs-Träume gesponnen.

Von den Reformen ist recht wenig übrig geblieben. Und was blieb, ist allen gegenteiligen Bekundungen der Christdemokraten zum Trotz nicht sonderlich attraktiv, weil unverständlich. Das Monstrum Kopfpauschale wird entsorgt - CDU und CSU haben es eingewickelt und weggepackt, so wie man das Weihnachtspräsent von Onkel Erwin im Keller deponiert.

Die Hybris von Leipzig ist verschwunden

Verschwunden ist auch die Hybris von Leipzig, die Merkel und manch anderer aus der CDU nach dem Parteitag zur Schau getragen hatten. Wer vor ein paar Monaten fragte, ob sich die Gesundheitsprämie tatsächlich finanzieren ließe, bekam keine klare Antwort, wurde aber altmodischen statischen Denkens beschuldigt.

Und Angela Merkel? Sie hat gewonnen in diesem Jahr, aber sie hat auch verloren. Gewonnen an Statur und Respekt, nicht aber unbedingt an Ansehen. Und der Respekt ist in erster Linie deswegen gewachsen, weil jetzt noch mehr Parteifreunde sie fürchten.

Die wenig appetitliche Kür des Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, der bittere, an Selbstzerfleischung grenzende Streit mit der CSU um die Gesundheitspolitik, der Abgang ihrer Widersacher Friedrich Merz und Horst Seehofer, der Teilabschied von den Leipziger Beschlüssen - Pyrrhussiege, allesamt. Angela Merkel hat sich durchgesetzt, hat ihre Macht bewiesen, sich nach der eigenen Partei auch die CSU gefügig gemacht.

Um einen hohen Preis. Das Bild des Menschen Angela Merkel, das so viele so lange und oft vergeblich zu zeichnen versucht hatten, ist jetzt klarer geworden. Sie ist keine kompulsive Männermörderin, die mit blutbespritzten Stiefeln pfeifend auf dem Weg nach oben marschiert.

Aber sie ist auch nicht Kohls Mädchen, keine geplagte Trümmerfrau, keine Jeanne d'Arc mit offenem Visier - und eine strenge Mami ist sie schon gar nicht. Wenn schon Mutter, dann allenfalls eine Mutter Oberin, eine Frau, bei der, wie Kenner des Klosterlebens wissen, Mutter Teil des Titels und keine Wesensbeschreibung ist.

Witzig, launig, kühl

Als intelligent, machtbewusst, distanziert und kalkulierend, auch als witzig und launig beschreiben Wohlwollende aus der Union die Parteichefin im Jahr Fünf ihrer Regentschaft. Auch als kühl. Weniger Wohlwollende nennen sie eine eiskalte Machtstrategin, wirklich interessiert nur an sich selbst.

Ja, Merkel strahlt Kälte aus. "Nein, Wärme hat sie so nicht ganz unbedingt", windet sich ein führender Christdemokrat auf diese Fragen, einer derjenigen, die früher einmal von Angie sprachen - und heute nur noch von Frau Merkel. Sie selbst ärgert sich über diese Charakterisierung, fühlt sich falsch verstanden.

Und bemüht sich, das Bild zu korrigieren. In etwas sonderbaren Interviews konnte man vor dem Düsseldorfer Parteitag nachlesen, was Angela Merkel gern kocht (Rouladen, ein Gänschen, gefüllte Paprikaschoten), dass ihre Lieblingswerte Treue und Verlässlichkeit sind, zwei Eigenschaften, die selbst den ihr Geneigten nicht unbedingt bei Beschreibungen Merkels einfallen.

Weniger Wohlwollende haben vor Lachen geprustet, als sie das lasen. "Sie wirft die Emotionsmaschine an", interpretiert jemand, der sie gut kennt, diese Ausführungen. Rouladen-Prinzessin statt Männermörderin? Andere erzählen, dass sich Merkel dieser Tage und Wochen tatsächlich um Nähe und Vertrauen bemühe.

Sonderlich erfolgreich ist sie aber offenkundig nicht.

Jemand, der viel mit ihr zu tun hat, nicht zum Lager der Widersacher zählt, wundert sich: "Ich verstehe ihr Misstrauen nicht. Sie ist selbst dort misstrauisch, wo sie überhaupt nichts zu fürchten hat."

Um die Kanzlerkandidatur muss sie jedenfalls nicht fürchten, da sind sich die Wohlmeinenden mit den weniger Wohlmeinenden völlig einig. Ein anderer käme nur durch Königinnenmord an die Spitze, und niemand, auch nicht der Ehrgeizigste aus der schwarzen Männerriege, fände sich zu einer solchen Tat bereit.

Und kann Merkel 2006 Kanzlerin werden? Wer so fragt, erhält als Antwort manchmal nur ein Achselzucken, versehen mit der Versicherung, dass sie dazu natürlich und ganz klar das Zeug habe.

Angela Merkels Profil ist klarer geworden, das der Union hingegen nicht. Im Gegenteil. Die vor Jahresfrist als so konsequent und stringent gepriesenen Reformprojekte sind kaum mehr wiederzuerkennen, der Kurs der Partei ist, wie abseits von Kameras und Mikrofonen allseits geschimpft wird, "diffus" und "verwirrend", für die Christdemokraten selbst und für die Bürger ohnehin.

Zu technokratisch, viel zu technokratisch. Einer, der mitspricht in den oberen CDU-Reihen, fragte dieser Tage: "Mir ist nicht klar - wollen wir die SPD rechts oder links überholen?"

Eine als technokratisch, kalt marktwirtschaftlich wahrgenommene Partei mit einer zumindest kühlen Chefin, das sind keine optimalen Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit dem Instinktpolitiker Gerhard Schröder. Und auch deshalb ist in der CDU in diesen Tagen so viel von Patriotismus und Vaterlandsliebe die Rede. Das sind Bauchthemen. Da klatschen die Leute, anders als bei der Kopfpauschale.

"Wir sind besser für Deutschland"

Als Überschrift für das Wahlkampfprogramm 2006 haben die Christdemokraten den Patriotismus schon länger im Auge gehabt, nicht gerade mit dem Slogan "Sich quälen für Deutschland". Eher nach einem Motto "Wir sind besser für Deutschland".

Kann das funktionieren? Grundsätzlich schon, aber nicht so, wie die Union es derzeit versucht. Das jedenfalls sagt Karl Lamers, der nach 22 Jahren 2002 als CDU-Bundestagsabgeordneter ausschied, einer der ganz Klugen der Fraktion war, ein loyaler Intellektueller mit eigener Linie, die nicht immer die Parteilinie war.

Lamers hat in seinem Leben viel nachgedacht über Werte, über Deutschland, Deutschlands Rolle in Europa und der Welt, über Nationalismus und Patriotismus. Er hält die Frage nach dem nationalen Selbstverständnis und den Pfeilern des gesellschaftlichen Zusammenhalts für ebenso berechtigt wie drängend, zumal in Zeiten der Globalisierung, des islamistischen Terrors, der Krise des jahrzehntelang so erfolgreichen wirtschaftlichen und sozialen Systems, des "erschreckenden Gefühls der Grenzenlosigkeit", wie er es nennt.

Ein Wunsch an Stoiber

Doch die bisherigen Antworten seiner Partei gefallen ihm nicht. "Die Antwort muss eine ernsthafte, konkrete sein und keine taktische, populistische, die sich, wie bisher, in Ankündigungen, Appellen und Bekenntnissen erschöpft", sagt Lamers.

Und er warnt die CDU davor, über Patriotismus nur eine Zukunfts-, aber keine Vergangenheitsdebatte zu führen. Viele in der Union wollen tatsächlich nicht noch einmal über den NS-Staat und Auschwitz diskutieren, wenn sie über Deutschland reden. Das aber könne und werde nicht funktionieren, sagt Lamers.

Und er, der wahrlich kein Fundamentalkritiker von Sozialreformen ist, spricht dann von Wärme, die offenkundig auch er in seiner Partei vermisst. Soziale Wärme, das vermissen in der CDU in diesen Tagen ziemlich viele. Der Partei, man kann es spüren, ist unbehaglich zu Mute, mit sich selbst.

Die Stimmung ist gedrückt, angespannt, ein wenig so, wie das Gesicht von Hermann-Josef Arentz, der auf dem Parteitag mit gutem Grund um seine Wiederwahl bangen, wenn nicht sogar das Ende seiner Karriere befürchten musste.

Jeder, den man in der CDU fragt, findet, dass ein Mann, der als Arbeitnehmer-Aktivist für Nichtstun 60.000 Euro im Jahr und kostenlosen Strom obendrein annahm, im obersten Parteigremium, dem Präsidium, nichts zu suchen habe. Angela Merkel selbst vermittelt den Eindruck, als gehe sie der Fall nichts an. Interessant nur, dass sie in ihrer Rede ankündigt, die CDU wolle den Filz bekämpfen. Arentz, so viel steht fest, ist der allseits unbeliebteste Mann des Parteitags.

In Leipzig war das noch Edmund Stoiber. Der ist zwar immer noch nicht sonderlich gut gelitten in der CDU, darf aber auf ein etwas pfleglicheres Willkommen bei der Schwester rechnen als vor Jahresfrist. Eben weil die Kanzlerkandidatenfrage in Wahrheit längst beantwortet ist.

Auf die Nerven geht er den Christdemokraten aber immer noch, inzwischen auch aus finanziellen Gründen. Denn die Millionenstrafe, die die Bundes-CDU wegen der Schwarzkassen der hessischen Christdemokraten zahlen muss, wird an die anderen deutschen Parteien verteilt, auch an die CSU.

Bitten der finanzklammen CDU, das Geld doch zurückzuüberweisen, seien, so jedenfalls berichten kundige Christdemokraten, aus München abgewiesen worden. "Wenn Stoiber Applaus will hier am Dienstag in Düsseldorf, muss er nur ankündigen, dass er uns das Geld abgibt", sagt einer dieser Kundigen.

© SZ vom 7.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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