Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte:Abdul Hanan gegen Deutschland

Lesezeit: 2 min

Nach dem Bombardement vor zehn Jahren: Tanklaster am Kundus-Fluss. (Foto: Jawed Kargar/EPA)
  • 2009 wurden bei einem Bombenangriff auf von den Taliban entführte Tanklaster in Afghanistan zahlreiche Menschen getötet, nach Schätzungen der Bundeswehr 91.
  • Unter den Toten waren auch die Söhne von Abdul Hanan, der 2016 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einreichte.
  • Hanan wirft der Bundesrepublik vor, dass die Ermittlungen nie darauf ausgerichtet waren, die Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit der tödlichen Gewalt zu überprüfen.

Von Lena Kampf und Hannes Munzinger, München

Nesarullah und Abdul Bayan sind seit mehr als zehn Jahren tot, und dennoch fühle er sich bis heute wie bewusstlos, sagte ihr Vater, Abdul Hanan, vor wenigen Wochen. Seine Söhne waren acht und zwölf Jahre alt, als sie beim Luftangriff auf zwei Tanklastwagen in der afghanischen Provinz Kundus getötet wurden.

Seither kämpft Abdul Hanan um Aufklärung vor deutschen Gerichten - bislang vergeblich. Und er zog vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. An diesem Mittwoch verhandelt das Gericht.

Die mit Benzin beladenen Lastwagen waren von Taliban gekapert worden und sollten offenbar in ein nahes Dorf gebracht werden. Doch das Vorhaben endete am Abend des 3. September 2009 auf einer Sandbank des Kundus-Flusses. Die Tanklaster steckten fest. Menschen aus den umliegenden Dörfern belagerten die Tanker, wollten sie ausschlachten und Benzin abzapfen. Bis zu 300 Personen sollen auf der Sandbank gewesen sein, darunter Kämpfer der Taliban, aber auch Dorfbewohner und Familien.

Ein Späher der internationalen Afghanistan-Truppe Isaf aber meldete, es seien nur Taliban, keine Zivilisten. Der deutsche Oberst Georg Klein forderte daraufhin einen Luftschlag der US-Streitkräfte an. Er fürchtete offenbar, dass die Taliban die Benzinlaster als Waffen nutzen und das nahegelegene Bundeswehr-Feldlager in Kundus angreifen könnten. Später warfen amerikanische Kampfjets auf Veranlassung des Deutschen Bomben auf die Tanklaster ab.

Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass der Angriff vor allem Menschen töten sollte: "Er (der Kommandeur) hat die Menschen als Ziel, nicht die Fahrzeuge", heißt es später in einem Untersuchungsbericht der Nato. Wie viele Menschen bei dem Angriff starben, ist bis heute ungeklärt. Die Nato sprach von 17 bis 142 Opfern, die Bundeswehr später von 91 Toten. Kein anderer Einsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg kostete mehr Menschen das Leben.

Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein wurde eingestellt

Der Angriff löste im Herbst 2009 in Deutschland eine Regierungskrise aus. Franz Josef Jung (CDU), der zum Zeitpunkt des Angriffs Bundesverteidigungsminister war, trat am 30. November als Arbeitsminister zurück. Er hatte den Befehl zum Angriff zunächst verteidigt und musste später eingestehen, dass ihm das Krisenmanagement entglitten war. Die juristische Aufarbeitung des Falles in Deutschland übernahm im März 2010 die Bundesanwaltschaft. Das Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein und einen deutschen Hauptfeldwebel wurde jedoch nach vier Wochen eingestellt. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2015, dass dies verfassungskonform war. 2016 reichte Abdul Hanan in Straßburg eine Beschwerde ein.

Hanan wirft der Bundesrepublik vor, dass die Ermittlungen nie darauf ausgerichtet waren, die Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit der tödlichen Gewalt zu überprüfen. Die juristische Aufarbeitung sei davon geleitet gewesen, die Bundeswehr aus der Verantwortung zu nehmen. Die Bundesanwaltschaft habe nicht unabhängig ermittelt und sei politisch beeinflusst worden, lauten weitere Vorwürfe.

Vor drei Wochen reiste Abdul Hanan von seinem Wohnort nach Kabul, um per Videotelefonat mit seinem Anwalt Andreas Schüller und der SZ zu sprechen. Der Angriff präge das Leben der Hinterbliebenen, sagte Hanan. "Die Menschen brannten, überall lagen Verwundete. Wir haben die Leichen am nächsten Morgen geborgen. Das werde ich niemals vergessen", sagte er weiter. "Es ist schrecklich, was die Deutschen uns angetan haben."

Hanans Beschwerde wird stellvertretend für die Hinterbliebenen verhandelt. Ihre Forderungen formuliert er klar: "Wir wollen keine Hilfe, wir wollen Entschädigung." Zunächst aber soll das Gericht feststellen, ob Deutschland den Schutz des Lebens und das Recht auf wirksame Beschwerde gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt hat. Zudem könnte das Verfahren klären, ob die EMRK außerhalb der eigenen Staatsgrenzen anwendbar ist.

Abdul Hanan kämpft um Gerechtigkeit für seine Söhne, aber auch um ihre Anerkennung als Opfer des Handelns deutscher Soldaten. Bisher zahlte die Bundesrepublik Hinterbliebenen für jedes Opfer 5000 Euro "ex gratia" - aus Gnade, ohne eine Rechtspflicht anzuerkennen. Abdul Hanan bekam die Hälfte, 2500 Euro für das Leben eines Kindes.

© SZ vom 26.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Krieg am Hindukusch
:Wie Afghanistan Frieden finden will

Präsident Ghani hat einen Sieben-Punkte-Plan für sein Land erarbeitet. Der sieht Zugeständnisse an die Taliban vor - und nennt das Nachbarland Pakistan "als Wurzel des Problems".

Von Tobias Matern
Jetzt entdecken

Gutscheine: