Abstimmung über Gesundheitsreform:Rot-Grün zittert um eigene Mehrheit

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Der Kanzler entschied kurzfristig, an einem Treffen mit SPD-Bezirks- und Landeschefs teilzunehmen, sein Vize Joschka Fischer bricht seine USA-Reise ab: Vor der Abstimmung über die Gesundheitsreform im Bundestag am Freitag zittern die rot-grünen Granden um eine eigene Mehrheit. SPD-Generalsekretär Olaf Scholz gerät zunehmend unter Druck.

Rot-Grün will bei diesem wichtigen Reformvorhaben der Bundesregierung ausreichend Rückhalt in den Reihen demonstrieren. Fischer soll dem Vernehmen nach einem Wunsch von Bundeskanzler Schröder nachgekommen sein.

Viel Überzeugungsarbeit zu leisten: Die Fraktionschefs von SPD und Grünen, Franz Müntefering und Krista Sager. (Foto: Foto: dpa)

Das umfangreiche Gesetzespaket wird zwar auf jeden Fall mit den Stimmen der Opposition den Bundestag passieren, da es von Regierung und Union ausgehandelt wurde.

Die Koalition will aber nicht auf Stimmen der Union angewiesen sein. Die Partei- und Fraktionsspitzen von SPD und Grünen haben daher stets eine eigene Mehrheit für die Reformpolitik des Kanzlers gefordert. Bekommt er diese bei der Gesundheitsreform als Auftakt zur "Agenda 2010" nicht, wäre dies für die Regierung ein Rückschlag.

Mehrheit "unverzichtbar"

Angestrebt wird eine einfache Mehrheit der anwesenden Parlamentarier, also eine Stimme mehr als von der Opposition. Sollten alle 297 Oppositionsabgeordneten anwesend sein, dürfte sich Rot-Grün mit insgesamt 306 Sitzen nur acht fehlende "Ja"-Stimmen leisten.

SPD-Fraktionschef Franz Müntefering sagte, "eine eigene Mehrheit der Koalition auch bei der Abstimmung am Freitag zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist unverzichtbar".

Momentan rechnet Müntefering damit, dass trotz der Überzeugungsarbeit am Ende drei oder vier Abgeordnete mit "Nein" stimmen werden. Eine letzte Probeabstimmung der SPD-Fraktion wurde vor der Bundestagsdebatte am Freitagmorgen angesetzt.

Unverhältnismäßige Belastung der der Versicherten

Bei den Grünen wurde zuletzt mit einer definitiven Gegenstimme sowie zwei oder drei Enthaltungen gerechnet. Hinzu kommen mögliche Krankheitsfälle. Die SPD hat eine namentliche Abstimmung beantragt.

SPD-Linken missfällt an dem Parteienkonsens vor allem die geplante Streichung von Kassenleistungen wie Zahnersatz und Krankengeld sowie die zahlreichen höheren Zuzahlungen. Die Versicherten würden unverhältnismäßig stark belastet, während Ärzte und die Pharmabranche geschont würden.

Ablehnung haben dem Vernehmen nach Horst Schmidbauer, Ottmar Schreiner, Sigrid Skarpelis-Sperk und Rüdiger Veit signalisiert. "Die Gesundheitsreform belastet die Versicherten einseitig mit 17 Milliarden Euro, Leistungserbringer wie Ärzte, Apotheken und Pharmaindustrie dagegen nur mit 3,5 Milliarden Euro", sagte Skarpelis-Sperk der Bild-Zeitung vom Donnerstag. "Deshalb stimme ich nicht zu."

Profilierung auf Kosten anderer

Den Kritikern des Gesundheitskompromisses wiederum wird in der Fraktion vorgehalten, es sei nicht hinnehmbar, dass Abgeordnete der Koalition mit "Nein" stimmen in der Gewissheit, dass mit Hilfe der Opposition das Gesetz sowieso eine Mehrheit bekomme: "Es geht nicht an, dass sich auf diese Art und Weise einige als die wahren Sozialdemokraten aufspielen und die reine Lehre vertreten auf Kosten anderer, denen die Zustimmung auch nicht leicht fällt", sagte ein SPD-Abgeordneter.

Kritisch zu dem Gesetzentwurf stehen bei den Grünen vor allem die Abgeordneten Jutta Dümpe-Krüger, Winfried Hermann, Werner Schulz und Hans-Christian Ströbele.

SPD und Grüne stellen 306 Abgeordnete, die Opposition zusammen 297 Parlamentarier. Bei vollbesetztem Parlament könnte sich die Regierungskoalition nur vier Nein-Stimmen leisten, um eine eigene Mehrheit zu haben. Die Grünen wollten vollständig erscheinen. Union und SPD konnten am Donnerstag noch keine Angaben über mögliche Kranke oder Abwesende machen.

SPD-Generalsekretär Olaf Scholz ist innerhalb seiner Partei besonders umstritten. "In einer Phase großer Schwierigkeiten der Partei ist die Aufgabe eines Generalsekretärs mehr, als bloß Pressesprecher des Kanzleramts zu sein", sagte Niedersachsens SPD-Chef Wolfgang Jüttner der Welt.

Sondersitzung mit Probevotum

Scholz' Amtsvorgänger Franz Müntefering habe es verstanden, die Seele der Partei zu streicheln. "Das vermissen wir bei Herrn Scholz", sagte Jüttner.

Die SPD-Bundestagsfraktion trifft sich unmittelbar vor der Bundestagssitzung am Freitag morgen zu einer Sondersitzung, auf der es eine neuerliche Probeabstimmung geben soll.

Der Verband der niedergelassenen Ärzte rief die Abgeordneten zur Ablehnung des Gesundheitskompromisses auf. Sie sollten ihrem Gewissen folgen "und sich nicht durch Fraktionszwang dazu bringen lassen, doch noch für dieses Gesetz zu stimmen", forderte der stellvertretende Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Hans-Martin Hübner.

Das Gesetz sei ein "Bürokratie-Monster", das die ärztliche Tätigkeit weiter belaste. Für die Patienten werde der ungehinderte Zugang zum Arzt erschwert, durch die Zuzahlungserhöhungen bei Medikamenten würden neue soziale Härten geschaffen.

(sueddeutsche.der/dpa/AFP)

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