Abschied:Die Passion der Papstjünger

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Achtzehn Stunden Anstehen für einen Abschied von zwei Sekunden: Warum Abertausende Pilger eine Tortur im Namen des Toten auf sich nehmen Eine Reportage von Stefan Ulrich

Um neun Uhr abends droht die Stimmung zu kippen. "Vogliamo passare, vogliamo passare", skandiert die Masse, "Wir wollen hier durch."

Millionen trauern um den Papst (Foto: Foto: dpa)

Mit der Kraft ihrer Leiber drücken die Pilger gegen die grauuniformierten Polizisten, die hier am Tiberufer vor dem Vatikan eine Sperre bilden.

"Betrug, Betrug", rufen die Empörten. Es ist eine heikle Situation an einer besonders heiklen Stelle.

Zwei Menschenschlangen stoßen hier aufeinander, um sich in die Via della Conciliazione zu winden, die Straße der Versöhnung, die den Tiber mit dem Petersplatz verbindet.

Die Polizisten aber lassen stets nur die von Osten kommenden Pilger weiterziehen, die aus dem Süden bleiben blockiert. "In den vergangenen dreieinhalb Stunden haben wir keinen einzigen Meter zurückgelegt", brüllt ein fassungsloser Römer in sein Handy. Die Geduld der Duldsamen scheint am Ende zu sein.

Vor neun Stunden hatten sie sich auf den Marsch gemacht, um Johannes Paul II. noch einmal ins Gesicht zu schauen. Doch was heißt hier Marsch. Allenfalls in Dribbelschritten geht es vorwärts. Meist herrscht Stillstand.

Bis zu fünf Millionen Pilger erwartet

Schon jetzt ist klar, dass sich an diesem Abend eine Masse auf den Petersdom zuwälzen wird, wie sie Europa nie gesehen hat. Eine Riesenschlange mit fünf Schwänzen schlängelt um den Vatikan, und es ist schon schwierig, eines der Enden zu finden. "Von hier aus stehen Sie mindestens 15 Stunden an", sagt ein Carabinieri, und sein Gesichtsausdruck zeigt, was er denkt: Povero cretino, armer Idiot.

Doch selbst das Schlange stehen will erst einmal verdient sein. Die heranziehenden Menschen werden von den Ordnern grüppchenweise an das Schwanzende herangeführt. Das allein dauert fast eine Stunde.

"Wir stehen an, um uns anstellen zu dürfen", witzelt ein stoppelbärtiger Bursche. Er ist in der Nacht mit der Fähre von Sardinien herübergekommen. "Als ich das hier sah, habe ich mir überlegt, gleich wieder umzudrehen. Aber dann habe ich gedacht: Du bist in Rom, Du gehst zum Papst. Andere fliegen für ein Rockkonzert nach Toronto. Da kannst du ruhig hier 15 Stunden stehen."

Selbst der tote Johannes Paul zieht die Menschen magnetisch an. Auf bis zu fünf Millionen soll die Zahl der Papst-Pilger an diesem Freitag steigen. Viele von ihnen sind junge Leute, besonders viele Mädchen sind dabei.

Er fand die richtigen Worte für junge Gläubige

Hier stehen sie mit ihren Rastalocken, Nasenringen und Rückentatoos geduldig in der Hitze zwischen den blassroten Backsteinwällen am Vatikan. Wie Schlachtenbummler rufen sie im Singsang: "Giovanni Paolo, Giovanni Paolo." Schweißgeruch liegt in der Luft.

Einer der unzähligen Polizisten, die die Schlange abschirmen, sagt: "Leute, ihr wisst ja gar nicht, was Euch noch erwartet. Mittlerweile sollen es schon 24 Stunden sein." Warum sie sich das alle antun? Schlangestehen für einen toten, in Moralfragen erzkonservativen Polen, der ihnen vorehelichen Sex und die Pille verboten hat?

Mit solchen Fragen können die Mädchen überhaupt nichts anfangen. "Dieser Papst ist einer von uns", sagt Nicola, eine 16-Jährige aus Lucca, während sie von ihrem Freund im Nacken gekrault wird. "Er hat uns gesucht, und er hat die richtigen Worte gefunden, damit wir Jungen an Christus glauben."

Die konservativen Ideen stören sie nicht. "Er ist eben konsequent. Und außerdem ist er der einzige Papst, den ich kennen gelernt habe." Dann rufen sie wieder alle: "Giovanni Paolo, Giovanni Paolo."

Zwei Stunden später. Unendlich langsam geht es an einer Bar unter Sonnenschirmen vorbei. Einige Gäste sitzen da, trinken Bier oder Limonade. Die ersten defätistischen Gedanken kommen hoch. Man könnte jetzt auch auf der Piazza Navona Eis essen oder in der Villa Borghese spazieren gehen.

Bloß nicht in Panik geraten

Doch niemand steigt aus. Erst am Abend, an der Tiberstelle, als gar nichts mehr geht, schlägt die Ausflugsstimmung in Unmut um. "Vogliamo passare", ruft da auch die dreijährige Michaela, die die neun Stunden meist auf dem Rücken ihres Vaters ausgeharrt hat. Dann sieht sie plötzlich eine korpulente Nonne und ruft verzückt: "Der Papst, der Papst."

Die Leute vor dem Polizei-Kordon müssen lachen - und dann geht es auf einmal fast zügig voran. Der Weg ist geöffnet hinunter in die Via della Conciliazione, wo sich die Schlangenschwänze vereinen.

Ein Aufatmen. Endlich ist der Blick frei auf den in weißes Licht getauchten Petersdom, die steinerne Krone der katholischen Kirche. Doch bis dorthin wogt eine verstörend große Masse von Menschen. Das Bild der Abertausenden, der dicht an dicht gedrängten Leiber, erinnert an die Pilgerfahrten in Mekka oder an die Khomeini-Revolution in Iran.

Die Polizisten wirken nervös. Über Taschenradios hören die Pilger, dass Verstärkung durch das Militär angefordert wurde. Elias Canetti hat einmal geschrieben, Zusammenballungen von Menschen neigten dazu, sich in Gewalt zu entladen. Es ist jetzt Mitternacht, und ein kalter Nebel zieht auf. Seit zwölf Stunden harren diese Menschen aus. Wenn jetzt ein Schieben und Drücken beginnt, oder ein Sprengsatz explodiert...

Die Füße schmerzen, der Rücken ist steif

Alessandra Cosimi plagen solche Gedanken nicht. "Ich habe überhaupt keine Angst vor einer Panik", sagt die Architektur-Studentin. "Wir sind doch Christen und pilgern zu unserem Papst. Deswegen sind wir hier sicher in seinen Händen. Ich weiß, dass er uns beschützt." Tatsächlich liegt plötzlich auch keine Spur mehr von Aggressivität in der Luft. Aus Lautsprechern klingen nun Gebete und Kirchenmusik.

Langsam und feierlich, wie in einer Prozession, schiebt sich die Menschenmenge voran. Für die Römerin Alessandra könnte der berauschende Anblick durchaus auch ein Zeichen des Himmels sein. Dieser Papst, so findet sie, ist ein Heiliger.

Zwei Uhr nachts: Endlich weitet sich die Straße zum Petersplatz. Doch dann kommt wieder alles zum Stehen. Die Schweizer Gardisten haben die Tore des Doms geschlossen, für Putzarbeiten, wie es heißt. Und das bedeutet: weitere drei Stunden Stillstand.

Die Füße schmerzen, der Rücken ist steif. Längst sind die Panini und Schoko-Riegel gegessen. Wasser gäbe es noch genug, doch die Pilger trinken wenig. Toiletten sind, aus der Mitte der Masse, nicht in Sicht.

Avanti, per favore.

Drei weitere Stunden. Schwerfällig wie Lastkamele lassen sich viele der Frauen und Männer auf dem müllübersäten Boden nieder. Doch es ist nur Platz für ein Kauern mit angezogenen Knien. Wer einschläft, kippt um. Und nur die wenigsten können grobe, mönchskuttenbraune Wolldecken von den Helfern ergattern.

Die Kälte kriecht in den Beinen hoch, eine ältere Frau zittert am ganzen Körper. In rascher Folge heulen Krankenwagen auf. Sie kommen, um Kollabierenden zu helfen. Eine Tortur? Alessandra lacht. "Denk' an Johannes Paul. Wie hat ihn sein Körper geplagt, und wie hat er sich immer wieder vorangetrieben. Noch kurz vor seinem Tod hat er die Menschen hier auf dem Petersplatz mit letzter Kraft gesegnet."

Endlich ertönen fünf Glockenschläge. Die Tore öffnen sich. In weiten Bögen ziehen die Pilger zwischen Absperrgittern über den Petersplatz, die Treppen hoch und hinein ins Mittelschiff. Die imperiale Pracht blendet die Augen.

Dann, nach 18 Stunden, ist es soweit. Vor dem Bronze-Baldachin Berninis liegt der Körper des Papstes. Ein, zwei Sekunden bleiben für den Blick in das maskenhafte Gesicht. Dann drängen die Wärter: "Avanti, per favore."

© SZ vom 8.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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