60 Jahre Unabhängigkeit:Danke, Indien

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Indiens parlamentarische Demokratie kann man für chaotisch und marktschreierisch halten, aber sie hält und zwar mit allem, was dazugehört: freie Wahlen, freie Presse, Redefreiheit und eine unabhängige Justiz. Das sah nach der Unabhängigkeit 1947 nicht so aus.

Stefan Klein

Was sind schon sechzig Jahre in einem so uralten Land wie Indien? Eigentlich nur ein Klacks, ein Atemzug der Geschichte. Indien war schon groß und reich, als sie anderswo noch auf den Bärenfellen lagen.

Und doch sind die letzten sechzig Jahre bedeutsam, denn sie markieren nach der langen kolonialen Knechtschaft die Existenz Indiens als freier und souveräner Staat. Als am 15. August 1947 Indien unabhängig wurde, da fand, um es in den blumigen Worten des ersten Regierungschefs Jawaharlal Nehru zu sagen, die lange unterdrückte Seele der Nation endlich Ausdruck.

Ein Ausdruck freilich, wie er schrecklicher kaum hätte sein können. Gezeugt von der Idee der Gewaltlosigkeit, schien das Land gleich nach der Geburt in Blut und Tränen unterzugehen.

Als nach dem Abzug der Engländer und der Aufteilung des Subkontinents eine Massenwanderung einsetzte - Muslime auf dem Weg von Indien in den neuen Staat Pakistan, Hindus und Sikhs in die umgekehrte Richtung -, als es dabei zu Mord und Totschlag und zu Hunderttausenden Opfern kam, da schien dieser Region eine finstere Zukunft bestimmt zu sein.

So ist es nicht gekommen, und doch haben viele der Probleme, die den Subkontinent (und nicht nur den) bis heute plagen, in dieser nach religiösen Kriterien vollzogenen Trennung ihre Ursachen. Beide Staaten definieren sich durch den Gegensatz zum jeweils anderen.

Das hat zum Beispiel zur Folge, dass in Indien trotz seines säkularen Credos die Muslime, die im Land geblieben und fast so zahlreich sind wie die in Pakistan, ein kümmerliches Dasein fristen - diskriminiert, bei der Hindu-Rechten verhasst und immer mal wieder, zuletzt 2002, Opfer von Pogromen.

Nirgendwo aber schwärt die Wunde der Teilung so unübersehbar wie im Streitfall Kaschmir. Er hat aus zwei armen Staaten hochgerüstete Atommächte gemacht, die wiederholt Krieg gegeneinander geführt haben. Er hat Terror und Unterdrückung möglich gemacht, hat den Extremisten auf beiden Seiten in die Hände gespielt und so, letztlich, auch jenen Dschihad befruchtet, der heute unter den Stichworten Taliban und al-Qaida die globale Szene beherrscht.

Aber auch in anderer Hinsicht war der Start ein schwerer. Wie so viele andere Ex-Kolonien verirrte sich auch Indien zunächst in den Dschungel staatsbürokratischer Murkswirtschaft, und entsprechend mühsam ging es voran. Es bedurfte einer Finanzkrise Anfang der neunziger Jahre, um endlich die Produktivkräfte des Landes zu entfesseln und seine enormen Energien freizusetzen.

"Die Zukunft ist Indien.''

Prompt schnellten die Wachstumsraten in die Höhe, und mit ihnen kam ein neues Selbstbewusstsein über den Hungerleider von einst. Kamal Nath etwa, Indiens Handelsminister, will nicht länger die Zukunft Indiens diskutieren, er sagt: "Die Zukunft ist Indien.'' Und vielleicht hat er ja recht: Mitte des Jahrhunderts, prophezeien Investmentbanker, könnte Indien die USA als stärkste Wirtschaftsmacht überholt haben und hinter China Zweiter sein.

Indien ist derzeit wie im Rausch, jedenfalls das urbane Indien, wo die glitzernden shopping malls und die neuen Jobs entstehen. Die große Mehrheit der Bevölkerung aber lebt nach wie vor auf dem Land, wo das Leben unverändert hart ist, wenn es nicht sogar härter wurde.

Denn für die wirtschaftliche Revolution ist natürlich ein Preis zu zahlen, und es ist wie immer die Umwelt, die ihn zahlt. Von der Landbevölkerung leben mindestens 300 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, und das heißt: von 1,50 Euro am Tag. Millionen andere haben kaum mehr.

Soll Indiens Aufschwung zur wirtschaftlichen Supermacht tatsächlich nachhaltig sein, wird man den Boom ausbreiten müssen in die ärmsten Regionen. Gelingt dies nicht, könnte aus den Rebellionen, die hie und da aufflackern, schnell ein Flächenbrand werden.

Oder wird man in Indien auch dieses Problem an der Wahlurne regeln? Von allen Leistungen, die das Land in sechzig Jahren Unabhängigkeit erbracht hat, ist dies mit Abstand die größte: Die Selbstverständlichkeit, mit der seine Menschen ihre demokratischen Rechte wahrnehmen.

Man mag Indiens parlamentarische Demokratie für chaotisch und marktschreierisch halten, aber sie hat, wenn man von Indira Gandhis autoritärem Intermezzo absieht, all die Jahre gehalten, und zwar mit allem, was dazu gehört: freie Wahlen, freie Presse, Redefreiheit und eine unabhängige Justiz.

Und sie hat nicht aufgehört, zu überraschen - nicht zuletzt die korrupten und selbstherrlichen Politiker, wenn sie sich, vom Wähler unsanft aus dem Amt befördert, von einem Tag auf den anderen auf dem Altenteil wiederfanden. Dies ist umso bemerkenswerter als Indiens große Nachbarn Pakistan, Bangladesch und China nicht gerade bekannt sind für ihre blühenden Demokratien.

Da heißt es dann, Demokratie als westliche Erfindung gehe nicht zusammen mit asiatischen Werten, die Menschen seien an Wohlstand interessiert und weniger an Wahl- und Menschenrechten. Indien beweist, dass dies nichts anderes ist als die Schutzbehauptung autoritärer Regime, die nicht den Mut haben, sich den Wählern zu stellen.

Für die Nachbarn ist das unangenehm, für die freie Welt ist es ein Grund zur Dankbarkeit. Danke, Indien.

© SZ vom 14.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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