Jorge Semprún:Aufbruch in die Wüste des Schreibens

Lesezeit: 10 Min.

Schon während Jorge Semprún im KZ Buchenwald war, wusste er, das er im Falle des Überlebens darüber schreiben würde. Doch lange war dies dem Schriftsteller unmöglich. Ein Gespräch darüber, was es heißt, das Lager zum Thema zu machen.

Interview: Franziska Augstein

Das Leben des 1923 geborenen Jorge Semprún wurde von zwei Totalitarismen geprägt: dem Nazismus und dem Stalinismus. Während des spanischen Bürgerkrieges musste seine Familie emigrieren. Im französischen Exil schloss Semprún sich der Résistance an. 1943 wurde er ins KZ Buchenwald deportiert. Weil er Kommunist war und deutsch sprach, überlebte er.

Die Ehrengaeste zur zentralen Gedenkfeier in Buchenwald (von links): Brandenburgs Ministerpraesident Matthias Platzek, der spanische Schriftsteller Jorge Semprun, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und Bundeskanzler Gerhard Schroeder vor dem Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar. (Foto: Foto: AP)

Später arbeitete er im Untergrund gegen das Franco-Regime. Seiner liberalen Ansichten halber wurde er 1964 aus der spanischen KP ausgeschlossen. Seitdem ist er Schriftsteller und Drehbuchautor. Er lebt in Paris. Anlässlich des Festaktes, mit dem am Sonntag der 60. Jahrestag der Ankunft der Amerikaner in Buchenwald begangen wird, hält Semprún in Weimar eine Ansprache.

SZ: Herr Semprún, Ihr erstes Buch, "Die große Reise", haben Sie 1963 veröffentlicht. Wie konnten Sie, was Sie damals über das Lager sagen wollten, in einer Erzählung von der Zugfahrt nach Buchenwald mitteilen?

Semprún: Die Beschreibung der Reise, ungefähr vier Tage und vier Nächte, erlaubte es mir, Rückblenden und, sozusagen, Vorausblenden einzufügen. Das Ganze spielt nicht nur im Waggon.

SZ: Ja, aber übers Lager konnten Sie auf diese Weise wenig reden.

Semprún: Nein, nein, das wollte ich auch nicht. Dazu war ich noch nicht fähig. Ich habe überhaupt nur in einem einzigen Buch aus dem Lager heraus erzählt, in "Was für ein schöner Sonntag", das 1980 erschien.

SZ: Welche anderen Bücher über das KZ-System hatten Sie vor 1963 gelesen?

Semprún: Absichtlich sehr wenige. Ich kannte "Jours de notre mort" von David Rousset, Eugen Kogons Buch über den SS-Staat, Robert Antelmes "Das Menschengeschlecht".

SZ: Was hielten Sie davon?

Semprún: "Das Menschengeschlecht" ist ein großartiges Buch, aber ich fand nicht, dass es vom Lager handelte. Natürlich: es spielt dort, aber eigentlich handelt es mehr von Demütigung, Entfremdung, Elend, von Dingen also, die man auch außerhalb eines KZ erlebt.

Antelme war in einem Außenlager Buchenwalds, in Gandersheim, dort kannte er jeden: die Mitgefangenen, die Kapos, die SS-Aufseher, fast jeden. Das Wort gehört sich nicht in diesem Zusammenhang, aber es gibt da eine Art Familiarität in seiner Erzählung. Ich habe das anders erlebt: In Buchenwald, wo es nicht einige hundert, sondern Tausende Gefangene gab, herrschte die Anonymität.

Man kannte fünf, sechs, sieben Kameraden. Im übrigen wusste man nicht einmal, wie die Leute hießen. Von manchen kannte man die Nummer. Eine der Schlüsselszenen Antelmes handelt davon, wie er, der Gefangene, ein Büro ausfegt und eine Frau angewidert vor ihm zurückweicht.

Das ist aber nicht charakteristisch fürs KZ, das kann ein afrikanischer oder arabischer Immigrant heutzutage in einem Bürohaus genauso erleben. Das Entscheidende an der Szene hat weniger mit dem Lager zu tun als mit der Demütigung, die der Fremdenhass mit sich bringt.

SZ: Antelme hat aber auch den Verfall seines Körpers beschrieben. Was Sie sagen, gilt dafür nicht. War Ihr physischer Zustand besser als der seine?

Semprún: Sehr viel besser. Ich wurde nicht auf einen Marsch geschickt, ich hatte nicht Typhus. Weil ich in der so genannten Arbeitsstatistik arbeitete, gehörte ich zur Nomenklatura des Lagers, das war ein Privileg, wenngleich nicht im Hinblick auf die Ernährung.

Anfangs habe ich von den Reserven gelebt - als junger Mensch hat man unglaubliche Reserven. Nach einem Jahr waren die verbraucht. Während der letzten sechs Monate war ich an der Grenze. Ich weiß nicht, wie lange ich nach dem April 1945 noch gelebt hätte.

Deshalb kann ich die Obsession gut verstehen, mit der Antelme über Nahrungsmittel geschrieben hat. Ich hätte das auch tun können. Aber: Ich lebe, ich war nicht so krank wie Antelme, ich habe nicht Monate der Genesung gebraucht. Deshalb habe ich nicht so viel übers Essen geschrieben.

SZ: Haben Sie schon in Buchenwald begonnen, ein Buch zu schreiben, zumindest im Kopf?

Semprún: Ja, im Kopf ja. Aber nach meiner Rückkehr ging es nicht mehr...

SZ: Und wie haben Sie das gemacht? Hatten Sie sich im Lager vorgenommen, alles gut in der Erinnerung zu behalten?

Gefangene des KZ Buchenwald wenige Tage nach ihrer Befreiung durch US-Truppen. (Foto: Foto: AP)

Semprún: Das war nicht nötig. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, es funktioniert wie ein Computer, ich kann Erlebnisse abrufen, wann immer ich will. Da gibt es Mechanismen, mittels derer ich Erinnerungen rekonstruiere. Heute noch kann ich Unterhaltungen in Buchenwald wiedergeben, die ich nie aufgeschrieben habe.

Aber das Buch, das ich in Buchenwald im Kopf hatte, war nicht so angelegt wie "Die große Reise". Anfangs wollte ich aus dem Lager erzählen. Als ich es dann 1945/46 versuchte, bin ich gescheitert. Ich kam bei diesen Versuchen dem Lager zu nahe - und damit dem Tod.

Nichts garantierte mir, dass ich mich nach der Niederschrift nicht umbringen würde. Ich war sicher, dass die Vollendung dieses Buches auch das Ende meines Lebens bedeuten würde. Wenn man an Primo Levi denkt oder an Jean Améry ist der Gedanke auch nicht gar zu absurd.

Ich hatte aber keine Lust, mich umzubringen. Also habe ich beschlossen, gar kein Buch zu schreiben. Entweder dieses Buch oder keines. Ich hätte ja schlecht eine Liebesgeschichte oder einen Krimi verfassen können. "Die große Reise" zählte allerdings zu den Büchern, die ich 1945/46 dann doch nicht geschrieben habe. Das Konzept dieses Buches gehörte zu denen, die ich damals schon im Kopf hatte.

SZ: Jean Améry ist in den 60er Jahren gewarnt worden: Es gebe schon genug KZ-Literatur, er solle sich zurückhalten. Haben Sie dergleichen auch anhören müssen?

Semprún: Mal wurde gesagt, es gebe nicht genug Bücher, dann wieder, es gebe zu viele. Das ist normal, das kommt und geht. In "Die Atempause" erzählt Primo Levi von einem Albtraum: Er ist nach Turin zurückgekehrt, sitzt mit seiner Familie beisammen und redet ein wenig übers Lager; nach fünf Minuten stehen alle einer nach dem anderen auf und verlassen den Raum: Niemand will ihn anhören. Das hat mich beschäftigt. Ich habe mir gesagt: Es war richtig, dass ich selbst nie darüber gesprochen habe.

SZ: Aber mit Ihrer Frau haben Sie damals darüber gesprochen?

Semprún: Ja, das aber nicht, weil ich mit ihr zusammenlebte, sondern bei Treffen der französischen kommunistischen Partei. Nur in diesen Runden, da es ums Politische ging, habe ich erzählt. Als "Die große Reise" 1963 erschien, gab es viele, die keine Ahnung davon hatten, dass ich in einem Lager gewesen war. Dies Buch, das ich 1945 nicht hatte schreiben können, war mein Eintrittsbillett in die Schriftstellerei.

SZ: Waren Sie überrascht über den Anklang, den das Buch fand?

Semprún: Anfangs war es nur mäßig erfolgreich.

SZ: Aber Sie erhielten einen Preis.

Semprún: Einen Preis? ... Ach ja, den Prix Formentor. Der bedeutet in Frankreich nicht viel. Das Buch wurde auch in zwölf Sprachen übersetzt...

SZ: Na eben!

Sem prún: Ja, gut. Aber erst im Lauf der Jahre hat das Buch seine Leser gefunden. Bei "Schreiben oder Leben", das 1994 herauskam, war das ganz anders: Da wurden in Frankreich auf Anhieb 200.000 Exemplare verkauft. Zufällig fiel das Erscheinen mit dem 50. Jahrestag des Kriegsendes zusammen.

Und zufällig kam das Buch zu einer Zeit heraus, als die Distanz zur Geschichte hinreichend groß war, aber noch nicht so groß, dass die Leute gesagt hätten: wovon redet der eigentlich? Was "Die große Reise" angeht, will ich nicht meckern, aber die Geschichte des Buches ist tatsächlich mehr eine Sache der longue durée.

SZ: Sie haben nach 1946 und schon vor der "Großen Reise" aber versucht, das Lager zum Thema zu machen.

Semprún: Ein Theaterstück habe ich halb geschrieben. Einen Roman habe ich 1950 auf halbem Wege abgebrochen. Da wollte ich alles mögliche hineinpacken. Das geht bei ersten Romanen oft so: dass der Autor alles auf einmal sagen will.

SZ: Sie haben gesagt, von Jean Giraudoux hätten sie gelernt, den Tod zu erkennen. Was bedeutet das?

Semprún: Giraudoux spricht in seinen Romanen oft von Zeichen; die erscheinen und werden dann von den Figuren interpretiert. Nun, das ist Literatur. Die Vorzeichen hingegen, die bei mir vorkommen... Sie beziehen sich auf eine Passage in "Was für ein schöner Sonntag"?

SZ: Ja, unter anderem.

Semprún: Der SS-Mann, der da neben dem eingeschneiten Baum steht: Das habe ich damals nicht als Anzeichen des Todes wahrgenommen, das war etwas anderes. Seltsamerweise - aber was heißt das schon, ich bin kein Experte der Philosophie vom Tod - seltsamerweise habe ich heutzutage zwei starke Empfindungen.

Die eine ist offensichtlich: Es bleibt mir wenig Zeit, und die wenige Zeit, die bleibt, ist zudem sehr kurz: Wenn man zwanzig ist und weiß, dass man noch fünf Jahre hat, dann ist das ungeheuer viel. In meinem Alter sind ein paar Jahre gar nichts. Das ist das Eine. Andererseits haben die Anzeichen des Todes sich verflüchtigt.

Früher hatte ich das Leben vor mir, und es gab diese Zeichen - etwa in Madrid, wenn ich zu einem geheimen Treffen musste und irgendein Zeichen darauf hinwies, dass die Polizei womöglich auch da war. Heute ist der Tod nicht nur viel näher, er hat sich auch völlig maskiert, der Mistkerl. Die Ungewissheit ist komplett. Das ist sehr seltsam.

SZ: In ihrem jüngsten Buch, "Zwanzig Jahre und ein Tag", das in Spanien spielt, nimmt der Tod auch eine große Rolle ein, er ist geradezu ein Protagonist, ein Verführer sogar.

Semprún: Ja, aber das ist typisch spanisch, nicht wahr?

SZ: Ist es das?

Semprún: Ja, ich denke schon. Ich kann nur sagen, dass ich das nicht absichtlich mache. Das kommt spontan.

SZ: Alle, die übers Lager schreiben, sagen, es sei unmöglich, diese Erfahrung ganz zu schildern. Warum?

Semprún: Weil es eine unendliche Geschichte ist.

SZ: Aber eigentlich ist doch jede Geschichte unendlich, eine jede kann man in immer mehr Facetten darstellen.

Semprún: Das stimmt. Aber Erzählungen aus den Lagern sind es besonders und auf besondere Weise. Das Unendliche des Lagers ist etwas anderes als, sagen wir, das Unendliche der Liebe. Jede Erzählung ist unendlich, insofern der Autor nicht weiß, wo er anfangen und aufhören soll.

Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist auch unendlich: Die Geschichte hört irgendwann auf, aber Proust hätte ohne weiteres noch zehn Bände anfügen können. Übers Lager erzählen ist trotzdem etwas anderes... es fällt in eine andere Kategorie...

SZ: Vielleicht kann man es so beschreiben: Einerseits kann man niemals alles erzählen, und andererseits kann niemand es ganz verstehen.

Semprún: Voilà! Das ist es. Wenn man eine Liebesgeschichte schreibt, weiß man genau, dass man verstanden wird. Dies deshalb, weil die Liebe universell ist. Das Lager ist es nicht.

Man weiß nie: bin ich verstanden worden? Man kommt also darauf zurück, erzählt die Geschichte etwas anders, in der Hoffnung, der Leser möge diesmal begreifen. A priori hat man das Gefühl, sich nicht verständlich machen zu können. Die Geschichte ist nicht nur schwer verstehbar, sie ist eigentlich nicht einmal vernehmbar. Daher die Empfindung, dass es sich um eine unendliche Geschichte handelt.

SZ: Wieso "nicht vernehmbar"?

Semprún: Selbst wer genau zuhört, kann das Wesentliche verpassen. Das Wesentliche, worin liegt das? Der Autor weiß es ja selbst nicht. Wenn er eine Liebesgeschichte erzählt, weiß er genau, worauf es ankommt. Da gibt es kulturelle Gewohnheiten, einen Code, der allgemein gültig ist und allen bekannt. Für das Lager gibt es keinen Code.

Du verabschiedest dich bei jedem Buch aufs Neue in die Wüste der Darstellung. Das Wesentliche des Lagers kennt man als Autor selbst nicht, man sucht, es im Schreiben zu erfassen. Und weil man nicht sicher ist, ob die Verständigung mit dem Leser gelingt, ist die Geschichte, die man erzählt, unendlich.

SZ: Vor zehn Jahren haben Sie gesagt, beim Schreiben übers Lager kehre die Angst zurück. Vor 25 Jahren haben Sie festgestellt, das Schreiben sei ein Mittel gegen die Angst. Was von beidem ist zutreffender?

Semprún: Das hängt davon ab, von welcher Zeit Sie reden. Viele Jahre lang war das Schreiben eine Hilfe gegen die Angst. Jetzt, da ich alt bin, hat die Angst ihr Auftreten verändert. Es geht nicht mehr um die Angst vor dem Lager, sondern um die Angst vor dem Tod. Diese Angst bezieht sich auf die Zukunft.

Das Lager erinnert an den Tod, aber der Tod steht sowieso an, auch wenn er mit dem Lager womöglich gar nichts mehr zu tun hat. Viele Jahre lang habe ich mir mittels des Schreibens, mittels der ästhetischen Form, die Angst vom Hals gehalten. Das verschafft etwas Gelassenheit, aber die verliert sich auch schnell wieder. Eine Vorstellung, ein Satz genügt.

SZ: Träumen Sie noch von Buchenwald?

Semprún: Nein. Früher oft. Jetzt nicht mehr.

SZ: In "Was für ein schöner Sonntag" haben Sie erzählt, dass Sie an dies Buch schon dachten, bevor "Die große Reise" überhaupt erschienen war: Als Sie Anfang der 60er Jahre entdeckten, welchen verderblichen Weg der Kommunismus genommen hatte, wussten Sie, dass Sie unbedingt nochmals über Buchenwald schreiben mussten, und zwar aus der Perspektive desjenigen, der am Kommunismus verzweifelt ist. Trotzdem haben Sie "Was für ein schöner Sonntag" erst 1980 publiziert. Warum so spät?

Semprún: Ich habe Drehbücher geschrieben, andere Sachen gemacht. Außerdem neige ich dazu, zu sagen: Es reicht, ich will mein Leben nicht damit verbringen, vom Lager zu erzählen. Dann schreibe ich über andere Dinge. Bis die Erinnerung sich wieder in den Vordergrund drängt.

SZ: Sind Ihre Erinnerungen ans KZ vergleichbar mit denen an Ihre Existenz als Kommunist?

Semprún: Nicht, was das alltägliche Leben angeht. Das versteht sich. Aber in übergeordneter Hinsicht kann man den Vergleich sehr gut ziehen.

SZ: Welche Erinnerung ist schmerzhafter?

Semprún: Schmerzhafter? Der Kommunismus! Im Lager habe ich keine Desillusionierung erlebt. Ich komme dort an, ich weiß, was der Nazismus ist, nichts kann mich da überraschen, die Brutalität überrascht mich nicht. Wenn ich die Leute sehe, die sagen: diese gemeinen Kerle, was machen die mit uns?, dann sage ich: Was denkt ihr, habt ihr geglaubt, ihr seid hier in den Ferien, oder was?

Aber die Entdeckung, dass der stalinistische Kommunismus, wie ich ihn kannte, trotz der Kommunisten, trotz der Großherzigkeit der Kommunisten eine völlige Verirrung war, das hat mich böse überrascht. Das Lager ist nicht auszuhalten, es ist tödlich, unerträglich, aber nicht schmerzhaft. Im Gegenteil, jeden Abend sagt man sich: Ah, schon wieder ein Tag, den du durchgehalten hast.

Heute ist es gelungen, den und den zu retten, dem und dem etwas Essen zu beschaffen. Am Ende eines Tages findet jeder irgendetwas Gutes. Die andere Erfahrung ist viel schmerzhafter, weil du gezwungen bist, dich selbst zu verleugnen, einen Teil von dir selbst zu zerstören. Deshalb gibt es so viele Kommunisten, die das nie getan haben: Den Schmerz, den das bereitet, wollten sie sich ersparen.

SZ: Was halten Sie vom gegenwärtigen Stand der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit?

Semprún: Derzeit erleben wir eine Phase des offiziellen Gedenkens. Dabei gibt es einen neuen Aspekt: Das Unglück der Juden ist mittlerweile in den Vordergrund gerückt. Früher wurde es als zweitrangig behandelt, das hat sich zum Glück geändert. Besser wäre es, wenn das Interesse noch umfassender wäre: Von den Zigeunern wird nicht genug gesprochen.

Außerdem meine ich, dass diese neue umfassende Sicht sich auf ganz Europa erstrecken muss. Solange Europa nicht auch den Gulag in seine Erinnerung einbezieht, wird etwas fehlen. Dabei geht es nicht um eine Art Antisowjetismus, nein, beides ist wichtig: die Erinnerung an den Nazismus und die an den Stalinismus. Ich finde es erstaunlich, wie schwer Europa sich damit tut, sich das historische Gedächtnis des Ostens zu Eigen zu machen.

Etwas Ähnliches werde ich in meiner Rede in Weimar sagen, allerdings mit einer Präzisierung: Die Erinnerung an die Lager der Nazis, die am längsten fortleben wird, ist die der Juden. Es gab keine Kinder der Résistance, die deportiert wurden, es gab aber jüdische Kinder. Diese Juden werden die letzten sein, die sich ans Lager erinnern können.

Und diese jüdische Erinnerung, die übrig bleiben wird, darf nicht nur jüdisch sein, sie muss universell sein. Die Juden müssen sich der Erinnerung aller Deportierter bemächtigen und sie fortschreiben - damit sie nicht verloren geht. Das ist es, was ich sagen werde.

© SZ vom 9. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: