60 Jahre Kriegsende:Die Parade der Versöhnten

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Wie zu Sowjetzeiten feiert Russland den historischen Sieg über Nazideutschland mit militärischem Pomp: eine Machtdemonstration Putins, die ihre Grenzen erst darin fand, den Regen abzuwenden.

Von Daniel Brössler und Nico Fried

Der Tag des Sieges beginnt für die russische Luftwaffe mit einer Niederlage. Der Präsident hat sich mit Frau Ljudmila vor Bau 14 des Kreml postiert und er muss - sehr zu seinem Leidwesen - einen großen, schwarzen Regenschirm aufspannen.

Und das, obwohl planmäßig die elf Sonnen-Bomber aufgestiegen sind, beladen mit Trockeneis und flüssigem Stickstoff. Das ist Moskaus in Sowjetzeiten oft erprobte Spezialrezeptur gegen Regenwolken, doch erst einmal hat sie versagt:

Die Hauptstadt der Russischen Föderation duckt sich unter grauen Wolken an diesem 60.Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg.

Wladimir Putin begrüßt seine höchstrangigen Gäste, mehr als 50 an der Zahl, also während eines ziemlich gewöhnlichen Regengusses. Es ist dies nicht die einzige Erschwernis, wird doch vom Kremlchef erwartet, seine Gäste auch dann zu erkennen, wenn es sich zum Beispiel um Silvia Cartwright handelt. Die Dame ist Generalgouverneurin von Neuseeland.

Die meisten Besucher aber sind alte Bekannte. Der Pole Aleksander Kwasniewski etwa, über den Putin kürzlich sagte, der ziehe über Russland her, um sich bei den Amerikanern für einen internationalen Job zu empfehlen. Während die Ehefrauen Küsschen tauschen, versucht der Pole einen Scherz und entlockt dem Gastgeber, immerhin, ein Lächeln.

Erst später strahlt Putin. Gerhard Schröder nebst Gattin Doris, in schwarz-weißem Kostüm, erscheinen. Kein dienstbarer Geist muss hinter Schröder hereilen, der Kanzler trägt seinen Schirm selbst. Nach einem kurzen Geplauder kommt es überraschend zu einem flüchtigen Gerangel, als sich Schröder protokollwidrig zum Familienfoto neben Frau Doris und nicht neben Putin postiert. Der Kremlchef lässt es geschehen, der Besucher aus Deutschland ist ihm sichtlich einer der liebsten.

Zum Essen auf die Datscha

Erst gegen Ende des Defilees erscheint der wohl schwierigste Gast, US-Präsident George W. Bush, der Putin wieder einmal instinktsicher die Schau stiehlt, indem er ihm gönnerhaft auf die Schulter klopft und dandymäßig mit seinem Schirm wedelt. Bush hatte in den vergangenen Tagen eine Menge über Russland und die Demokratie geredet, in Riga die sowjetische Besatzung des Baltikums beklagt und Putin auch sonst geärgert. Das alles freilich soll verpufft sein am Vorabend der Parade. Der Kremlchef hatte den Amerikaner zum Abendessen auf die Datscha eingeladen, und da sei die Stimmung zuweilen "sogar unbeschwert" gewesen, behauptete Bushs Außenministerin Condoleezza Rice danach.

Gerade noch rechtzeitig retten Russlands Wettermacher ihre Ehre. Pünktlich zu den Glockenschlägen um zehn klart es auf. Putins großer Auftritt, die Parade, kann ungetrübt beginnen. Nichts vereint die Russen so sehr wie die Erinnerung an den Sieg. Der Präsident weiß daher, was er der Nation schuldig ist, eine Demonstration alter Größe und neuer Macht.

Irgendwo auf der Tribüne am Roten Platz beobachtet das auch Günther Stiemke. Er ist im Airbus der Luftwaffe mit dem Bundeskanzler nach Moskau geflogen. Gerhard Schröder und seine Frau sind während des Fluges einmal kurz nach hinten gekommen, um ihre persönlichen Gäste und die mitgereisten Journalisten zu begrüßen. Günther Stiemke ist 83 Jahre alt, und trotzdem hat er sich kurz aus seinem Sitz erhoben. "Guten Tag Herr Bundeskanzler", hat er gesagt, "vielen Dank für die Einladung."

1941 war Stiemke nach Russland geschickt worden. "Ich bin Jahrgang 1922, die waren damals dran", erzählt er. Stiemke war von Anfang an dabei, als erstes ging es gleich in Richtung Leningrad. Später war er fast überall an der sowjetischen Front, bis hinunter in die Ukraine. Der junge Mann aus Stettin gehörte zu einem Panzerregiment. "Wir mussten immer ganz schnell dahin, wo die Gefahr am größten war."

Im ersten Winter hat Günther Stiemke irgendwo im Norden Russlands bei 30 Grad unter Null einen guten Freund begraben. Es war ein Schock für den jungen Mann. Ein älterer Offizier sei damals zu ihm gekommen und habe gesagt: "Wein' dich richtig aus. Du wirst es nie wieder tun." Und so war es auch, sagt Stiemke. Er hat viele Soldaten sterben sehen, aber niemals mehr hat er so geweint wie bei seinem Freund.

Vom Tod Adolf Hitlers hat Stiemke aus dem deutschen Rundfunk erfahren. Den 8. Mai erlebte er in der Nähe von Pilsen, als Kriegsgefangener der Amerikaner. Später wurde er für kurze Zeit den Russen übergeben, dann wieder den Amerikanern, die ihn bald darauf frei ließen. Im Sommer 1945 kam Stiemke nach Berlin, wo er seine Freundin heiratete.

Geschmückte Veteranen

Auf dem Flug mit dem Bundeskanzler nach Moskau trug Stiemke einen dunklen Anzug und am Revers eine goldene Anstecknadel mit einem Ypsilon. Es war das Zeichen seiner Panzerdivision. Stiemke war nach dem Krieg schon mal in Russland, mit seinem Traditionsverband. Nach Petersburg fuhren sie damals und noch 80 Kilometer weiter Richtung Südosten zu einem großen deutschen Soldatenfriedhof. "Wir hatten keinen Trompeter mehr", erinnert sich Stiemke. Ein russischer Junge hat damals das Lied 'Ich hatte einen Kameraden' geblasen. Stiemke findet es fast unglaublich, dass er jetzt mit nach Moskau reisen kann. "Einer, der den Krieg mitgemacht hat, wird vom Siegerland willkommen geheißen."

Diese Geste war Putin wichtig. "Die historische Aussöhnung zwischen Deutschland ist ein leuchtendes Beispiel", sagt er in seiner Ansprache auf dem Roten Platz. Und so dankt Putin nicht nur Amerikanern, Briten und Franzosen für die Waffenbrüderschaft, sondern auch den "deutschen Antifaschisten". Putin beschwört den Geist der Freundschaft - in einer Zeit, in der er sich nicht mit jedem westlichen Politiker so glänzend versteht wie mit dem Kanzler.

Auf dem Platz rollen wenig später mit Orden geschmückte Veteranen in nachgebauten Oldtimer-Lastwagen an der Tribüne vorbei und winken mit roten Nelken. Einer von ihnen ist Boris Gormelow. Als Stiemke vor Leningrad stand, schuftete er als Halbwüchsiger dort in einer Fabrik. Es sah viele Menschen sterben in dieser Zeit, doch schlimmer noch war es für ihn später nach der Blockade, sagt er. "Ich war bei der Artillerie und habe am Sturm auf Königsberg teilgenommen." Eine deutsche Bombe zerfetzte viele seiner Kameraden. Gormelow sah auch eine junge Soldatin sterben, sie war seine erste Liebe. Dass der Kanzler heute auf der Tribüne steht, freut ihn. "Wir dürfen die deutsche Nation nicht mit dem Faschismus gleichsetzen. Im Gegenteil: Wir haben den Deutschen geholfen, den Faschismus zu besiegen".

Schröder - auch das ein Symbol - hat Platz gefunden in der ersten Reihe direkt neben den einstigen Siegern, neben dem Franzosen Jacques Chirac, neben Putin und Bush. Unten auf dem Roten Platz bietet sich den Gästen ein fröhliches, kurioserweise fast friedliches Bild. Die russischen Streitkräfte haben Soldaten ihrer besten Militärakademien zum Teil in historische Uniformen gesteckt, in der sie nun zu schmissiger Musik marschieren. Das gibt der Parade eine sowjetisch-nostalgische Note. Erst als Kampfflugzeuge über den Roten Platz donnern und einen Schweif in den russischen Nationalfarben weiß, blau und rot hinter sich herziehen, zeigt auch das heutige Russland wieder militärisch Flagge.

Später am Nachmittag fährt Schröder auf den Friedhof Ljublino am Stadtrand von Moskau. 596 Soldaten aus elf Nationen liegen hier begaben, unter ihnen 486 Deutsche. Sie alle starben erst nach dem Krieg, als Internierte eines Sonderhospitals, eines Arbeitsbataillons oder des Kriegsgefangenenlagers 154. Vier Jahre lang, bis 1949, wurden hier Menschen beerdigt, die den Krieg überlebten und doch zu seinen Opfern wurden. Kleine Steinkreuze markieren das Gräberfeld.

Günther Stiemke steht neben einem bronzefarbenen Obelisken und sieht zu, wie der Kanzler die schwarz-rot-goldenen Schleifen eines Blumengebindes ordnet. Stiemke steht aufrecht, die Hände übereinander gelegt, er hat - wenn man so will - Haltung angenommen. Dann geht Schröder mit seiner Frau Doris über das Feld zu jenem Stein, der an den jüngsten deutschen Soldaten erinnert, der hier begraben liegt: Siegfried Pfaifer, geboren 1929, gestorben 1947.

Doch der symbolträchtigste Moment dieses Tages kommt am Ende, im grünen Salon des Hotels "President". 1945, so hat es Günther Stiemke jedenfalls im Flugzeug erzählt, habe er deutsche Kameraden gesehen, die ihre Waffe gegen sich selbst richteten, aus Angst, in russische Gefangenschaft zu kommen. Nun, 60 Jahre später, treffen Stiemke und ein paar weitere ehemalige Wehrmachtssoldaten auf russische Veteranen. Gemeinsam sitzen sie an einem runden Tisch aus hellem Holz, ein Russe, ein Deutscher, immer im Wechsel. Es gibt Kaffee, Wasser und Kekse. Lauter alte Herren, die sich vor 60 Jahren, wie es Wladimir Putin ausdrückt, "nur durch die Visiere ihrer Gewehre angeschaut haben".

Gesten am Gräberfeld

Putin und Gerhard Schröder nehmen sich fast eine Stunde Zeit für die Veteranen. Der russische Präsident findet Worte des Mitgefühls für die Gäste: "Der Feldzug nach Osten wurde für Millionen Deutsche und ihre Familien zur Tragödie." Und der Kanzler erinnert an die Familiengeschichten der beiden Politiker, an Putins Mutter, die nur knapp der Blockade von Leningrad entkam, und an seinen eigenen Vater, der in Rumänien fiel, ohne dass Gerhard Schröder ihn je getroffen hätte. Die russische Bereitschaft zur Versöhnung sei keine Selbstverständlichkeit, sagt Schröder, "sondern eine große Geste für unser Land".

An dieser Stelle nickt Günther Stiemke. Es war ein beeindruckender Tag für ihn. Mit gemischten Gefühlen sei er nach Moskau gekommen, erzählt er. "Ich wusste ja gar nicht, ob wir hier überhaupt gern gesehen sind." Aber dann hat man ihm einen warmen Empfang bereitet. "Da kann man dem Herrn da oben nur danken, dass ich das noch erleben durfte".

Den Vorschlag der russischen Offiziere, einen internationalen Veteranenclub zu gründen, unterstützt Stiemke. Eine Bitte hätte er allerdings: "Das muss schnell geschehen, denn wir sind alle in einem Alter, wo man die 100 Meter nicht mehr in elf Sekunden läuft."

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