50 Jahre EU:Zwei Europas feiern

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Die EU hat zwei Gesichter: das Europa der Bürokratie und das Selbstgefühl der Bürger. Bürokratie und Eliten-Politik eilen immer noch weit voraus.

Kurt Kister

Wer nicht Politik macht oder im weiteren Sinne von ihr lebt, dem ist wohl nicht aufgefallen, dass die Hälfte der deutschen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union schon wieder vorbei ist. Gewiss, in den vergangenen drei Monaten war in der Tagesschau und im Radio etwas häufiger von Europa die Rede.

Erfahrungsgemäß finden die Leute aber, und dies belegen alle Umfragen, das Thema eher zum Gähnen. ,,Europa'' ist für viele jenes sonderbare Gebilde, das aus Brüssel regiert wird von Leuten, die man nicht kennt und nicht gewählt hat; wo es unablässig Streit um Dinge gibt, die der alltäglichen Erfahrung weit enthoben sind (,,Subsidiarität'' etwa oder der,,Lissabon-Prozess''); wo die Phrasendichte in den Sonntagsreden so enorm ist wie kaum irgendwo anders.

An diesem Wochenende wird man gerade das wieder spüren, weil am 25. März vor 50 Jahren die Römischen Verträge unterzeichnet worden sind. Was damals als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit sechs Ländern begann, ist heute die Europäische Union mit 27 Staaten.

Abgesehen von den Veranstaltungen der politischen Elite mit den Staats- und Regierungschefs wird es auch ein Freiluftfest, eine Clubnacht und dergleichen mehr geben. Gefeiert wird in Berlin, weil die Deutschen turnusmäßig den Vorsitz in der EU führen. Die Berliner werden kommen, weil sie immer kommen, wenn rund um das Brandenburger Tor die Straßen gesperrt werden und es nach Bratwurst riecht - egal ob Fußball-WM, Silvester oder eben Europa.

Bei so einem Straßenfest überschneiden sich die zwei Europas, die es gibt. Das eine Europa ist das Europa der Eliten, das langweilige, das Problem-Europa. In diesem Europa geht es in erster Linie um die Organisation des offiziellen Zusammenlebens auf dem alten Kontinent. Im Organisationseuropa streitet man sich um Stimmengewichte im Rat der EU, um Konsens- oder Mehrheitsentscheidung, um Formulierungen, Zusätze, Protokolle im Verfassungsvertrag, den normale Menschen nicht lesen wollen.

Es ist jenes Europa, das symbolisiert wird von überbordenden Verordnungen, von Männern in grauen Anzügen, von Nettozahlern und von Präsidenten, die nächtelang um Schweinesubventionen feilschen. Es ist auch jenes Europa, in dem wie eine Sensation angekündigt wird, dass die ,,Berliner Erklärung'' zum 50. Geburtstag kurz und verständlich sein soll.

Die Namen der Toten

Das zweite, das andere Europa ist nicht zu fassen. Aber man kann es fühlen, wenn man zwischen Deutschland und Frankreich über einen Grenzübergang fährt, von dem man weiß, dass er da mal war, den es aber nicht mehr gibt. Man spürt dieses Europa, wenn man in Trient, Ljubljana oder Gent in einem Café sitzt und eben nicht richtig das Gefühl hat, im ,,Ausland'' zu sein - auch wenn die Leute um einen herum anders reden, aber man sie trotzdem nicht mehr als anders im Sinne von fremd empfindet.

Natürlich haben die Länder in Europa und außerdem noch etliche Volksgruppen in diesen Ländern ihre jeweils eigene Identität, ihr Selbst-Gefühl. Aber dieses Anderssein wird eben weithin nicht mehr als trennend oder gar bedrohlich empfunden.

Diese nun wirklich epochale Veränderung kann man spüren, wenn man in einem Dorf vor einem Kriegerdenkmal steht und unter den Daten 1870, 1914/18 und 1939/45 die immer gleichen Nachnamen der Toten liest. Das ist vorbei. (Die Balkankriege waren hoffentlich nur Abirrungen an der historischen wie geographischen Peripherie Europas.)

Jedenfalls: Zum ersten Mal in der Geschichte Europas hauen oder schießen sich nicht mehr in jeder Generation die Nachbarn zwischen Atlantik und Schwarzem Meer tot. Die Deutschen überfallen nicht mehr in jeder Generation Polen oder Frankreich. Begriffe wie Erzfeind oder polnische Teilung diffundieren aus der Gegenwart endlich ins schrecklich große Arsenal der historischen Scheußlichkeiten.

Mittlerweile weiß fast jedes Kind, dass Deutschland nur noch von Freunden umgeben ist, dass es kaum mehr Grenzen gibt in Kerneuropa, dass wir von Finnland bis Sizilien mit derselben Währung bezahlen. Dies alles ist selbstverständlich geworden, zumal für jene Jüngeren, die nach 1980 geboren sind.

Die Zeit der europäischen Bürgerkriege, die zu Weltkriegen wurden, kennen sie nicht einmal mehr aus den Erzählungen ihrer Eltern, weil auch die keine persönlichen Erinnerungen mehr an die Zeit vor 1945 haben. Das Außerordentliche, der Austritt Europas aus seiner immer wieder gewalttätigen Geschichte, ist zur Normalität geworden.

Auch Deutschland, das heute ein ganz normaler Staat in diesem normalen, außerordentlichen Europa ist, hat auf seinem langen Weg seit 1945 der EWG, der EG und schließlich der EU sehr viel zu verdanken. Es gab in Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren so etwas wie Europa-Begeisterung. Weil vielen der deutsche Nationalstaat durch die Verbrechen der Nazi-Zeit als diskreditiert erschien, suchte man als europäische Nation nach Versöhnung und nach einer geläuterten Identität. Europa hatte für Deutschland damals eine Bedeutung, die weit über das Wirtschaftliche hinausging. Man wollte sich wieder etablieren unter den Völkern Europas.

Angst und Enttäuschung

Etwas Vergleichbares, wenn auch unter anderen Vorzeichen, erleben wir seit den neunziger Jahren mit den Beitrittswellen der Ost- und Mitteleuropäer. Gerade für jene Länder, die jahrzehntelang als Teil des ,,Ostblocks'' Gegner und, schlimmer noch, ferne Fremde waren, bedeutete der Beitritt zur EU eine neue oder die Rückkehr in eine alte Heimat.

Das Anwachsen der EU auf 27 Mitgliedsstaaten hat leider auch die Entwicklung jenes ersten, unpopulären Europas gefördert. Das Schicksal des Verfassungsvertrags und seine Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden, zwei Pfeilern Kerneuropas, haben gezeigt, in welchem Ausmaß mittlerweile Ängste und Enttäuschung auf das Brüsseler Europa projiziert werden.

Dies hat damit zu tun, dass die Eliten, die Europa-Macher, das Desinteresse vieler Bürger an ihrem Projekt als Freibrief missverstanden haben. Die Erweiterung erfolgte zu schnell und ohne hinreichende Vorbereitung. Die Union der 15 befand sich auf einem guten Weg, weil das europäische Gefühl der Bürger allmählich wuchs, so dass es zur Geschwindigkeit des bürokratischen, die Herrschaft organisierenden Prozesses in Brüssel aufschloss.

Das Europa der Bürokraten und das Europa der Bürger wuchs langsam zusammen. Dieser Prozess ist durch die Erweiterung auf 27 Staaten mit höchst unterschiedlicher europäischer Verwurzelung unterbrochen worden. Und es wird nicht besser dadurch, dass die Aufnahme der Türkei erwogen wird.

Gewiss doch, Europa definiert sich über Werte. Aber es definiert sich schon auch über Geographie und Geschichte. Dies alles zusammen bestimmt das Selbstgefühl der Europäer. Dem eilen die Bürokratie und die Eliten-Politik derzeit weit voraus.

© SZ vom 14.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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