Dublin-Verfahren:Bis nichts mehr geht

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Die umstrittene Regelung zwischen den EU-Staaten war für Deutschland lange Zeit sehr bequem. Sie hielt Asylbewerber von den Grenzen fern. Dann aber kamen zu viele Flüchtlinge auf einmal.

Von Roland Preuss

Politikern fällt es schwer genug, Fehler einzugestehen. Die Sätze von Angela Merkel zu Flüchtlingen und Zuwanderung aber zeichnen zwei Besonderheiten aus. Sie hat Mängel eingeräumt auf einem Gebiet, das sie selbst schon vor Jahren zu einem Schwerpunkt ihrer Regierungspolitik ausgerufen hatte: der Integration. Und sie hat damit auch ihre eigenen Innen- und Integrationspolitiker abgewatscht, die diese Politik jahrelang mit einigem Einsatz betrieben und wacker verteidigt haben. Dieser Aspekt wird derzeit übertönt von der Debatte um den Streit der Unionsschwestern und der Frage, inwiefern der CDU das Eingeständnis ihrer Kanzlerin nun helfen wird.

Merkels Selbstkritik lässt sich auf einige wenige Sätze verdichten: Man habe Schwierigkeiten, den Zustrom der Flüchtlinge zu bewältigen, "auch, weil wir in den vergangenen Jahren weiß Gott nicht alles richtig gemacht haben", sagte Merkel am Montag in der CDU-Zentrale. "Weil wir auch wirklich nicht gerade Weltmeister bei der Integration waren, weil wir zum Beispiel auch zu lange gewartet haben, bis wir uns der Flüchtlingsfrage wirklich gestellt haben." Und weil man politisch zu spät reagiert habe: "Auch ich habe mich lange Zeit gerne auf das Dublin-Verfahren verlassen, das uns Deutschen - einfach gesprochen - das Problem abgenommen hat. Das war nicht gut", sagte die CDU-Chefin.

Was meint sie damit? Was die Flüchtlingspolitik angeht, so muss man lange zurückblicken, bis zum Beginn der Neunzigerjahre. 1990 wurde das sogenannte Dublin-System zwischen den EU-Staaten vereinbart, federführend auf deutscher Seite war der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Das Übereinkommen bestimmt, welcher europäische Staat für ein Asylverfahren zuständig ist: Das ist derjenige, den ein Flüchtling zuerst betreten hat. So sollte vermieden werden, dass Flüchtlinge in einem Europa ohne Grenzen umherziehen und alle Staaten eine Verantwortung ablehnen. Aus Sicht der Bundesregierung hatte es noch einen weiteren Vorteil: Asylsuchende, die aus anderen EU-Ländern in der Bundesrepublik auftauchen, können in eben diese EU-Länder zurückgeschickt werden.

Das Übereinkommen trat erst 1997 in Kraft. Entscheidend war die Wechselwirkung mit dem deutschen Asylkompromiss von 1993, welcher das Grundrecht auf Asyl beschränkte. Seitdem konnte sich nicht mehr auf das Asylgrundrecht berufen, wer aus einem EU-Land oder sonstigen Staat einreiste, in dem die international garantierten Flüchtlingsrechte gewährleistet sind. Nach der Grundgesetzänderung sank die Zahl der Asylanträge in Deutschland drastisch und ging in den Jahren danach weiter zurück. 2004 folgte der letzte Baustein dieser Konstruktion. Polen und weitere Länder im Osten traten der Europäischen Union bei, damit war die Bundesrepublik von als sicher eingestuften Staaten umgeben. Wer noch Chancen auf Asylschutz haben wollte, musste faktisch mit dem Flieger anreisen. Und so ging die Zahl der Asylanträge weiter zurück, gut 19 000 waren es noch 2007.

Alle Bundesregierungen, egal welchen Farbmusters, hielten eisern am Dublin-Verfahren fest. Das gilt auch für Rot-Grün, der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) strebte sogar Auffanglager in Nordafrika an, um dem Migrationsdruck an Europas Außengrenzen zu begegnen. Denn der hielt an, die Lasten aber mussten nun die Staaten an Europas Rändern schultern, etwa Italien und Spanien. Wenige Jahre später aber änderte sich die Lage: Die Kriege im Irak und Afghanistan ließen immer mehr Menschen an den EU-Grenzen anlanden, später kamen Flüchtlinge im Zuge des Arabischen Frühlings hinzu, vor allem aus Syrien. Die Grenzstaaten ächzten, forderten eine Lastenteilung in der EU, doch Merkels Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Hans-Peter Friedrich (CSU) verteidigten das System eisern, das so viele Flüchtlinge von Deutschland ferngehalten hatte. Bis es kollabierte: Grenzstaaten wie Griechenland, zeitweise auch Italien, winkten viele Flüchtlinge unter Missachtung europäischen Rechts nach Norden durch. Die Menschen zurückzuschicken funktionierte immer weniger, auch weil Gerichte die sogenannten Überstellungen in andere EU-Länder wie Ungarn verhinderten. Schon seit 2011 schiebt Deutschland grundsätzlich keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland ab.

Die Lasten kehrten sich damit um. Nun hatten Schweden, Österreich und Deutschland mit am meisten zu tragen, nun, im Jahr 2014, forderte CSU-Chef Horst Seehofer, die Flüchtlinge gerecht in Europa zu verteilen, auch de Maizière warb für eine neue Lastenteilung in der EU. Vor ein paar Jahren, als die Zahlen moderat waren, hätte sich dies in Brüssel vermutlich noch durchsetzen lassen, nun aber blockierten andere EU-Staaten, bis heute.

Und wie steht es um Merkels zweites Eingeständnis, ihr Bekenntnis, beim Thema Integration nicht geliefert zu haben? "Dass wir im Moment noch zu wenig Sprachkurse anbieten können, nicht ausreichend Lehrerinnen und Lehrer haben und dass die große Aufgabe der Integration in den Arbeitsmarkt noch vor uns liegt", wie die Kanzlerin sagte. Das ist sicher richtig. Ebenso richtig aber ist auch, dass die Bundesregierung (mit den Ländern) einiges bewegt hat beim Thema. Die vielen Integrationsgipfel, Bildungsprogramme oder Sprachtests für Migrantenkinder haben Früchte getragen. Die Ergebnisse, sagt der Migrationsforscher Stefan Luft von der Uni Bremen, seien im internationalen Vergleich durchaus vorzeigbar: "Die großen Krawalle hat es nicht bei uns gegeben, sondern in den französischen Vorstädten, in den Niederlanden oder Großbritannien."

Und doch offenbarte die Flüchtlingskrise Defizite: chronisch unterfinanzierte Integrationskurse, in denen viele Lehrer zu Niedriglöhnen unterrichten, chaotische Asylverfahren, welche die Menschen teils viele Monate lang zum Nichtstun verdammen, oder mangelnde Hilfe, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Diese Defizite hängen allerdings mit der Zahl der Flüchtlinge zusammen, die vergangenes Jahr auf etwa eine Million hochschnellte. Das überforderte Behörden wie Kursanbieter. Und geht letztlich auf Fehler Nummer eins zurück: mangelnde Lastenteilung in Europa.

© SZ vom 21.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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