10. Tag:Das Glück liegt in einem Keks

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Von den vielen namenlosen Flüchtlingen und Einheimischen, den Patienten und ihren Angehörigen bleiben nur einzelne Menschen dauerhaft in Erinnerung - wie jener kleine Junge mit dem entzündeten Ohr.

Ein sechsjähriger Junge wird schwerkrank und regungslos mit hohem Fieber zu uns gebracht - er leidet unter einem schlimm vereiterten linken Ohr.

Die bakterielle Entzündung droht auf den benachbarten Schädelknochen, auf die Hirnhäute und den gesamten Blutkreislauf überzugreifen, so dass einzig eine intravenöse Therapie noch Aussicht auf Heilung bietet.

Mit dieser intensiven Behandlung erholt sich der Junge schon am ersten Tag spürbar. Danach kommt er täglich um neun Uhr am Morgen in Begleitung seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester aus dem Flüchtlingslager in unser Überwachungszelt, um sich für die drei Medikamentengaben am Tag eine neue Venenkanüle in der Ellenbeuge oder am Unterarm legen zu lassen.

Der liebenswürdigste Junge der Station

Ganz höflich und tapfer, aber zitternd und voller spürbarer Angst vor der bevorstehenden Punktion begrüßt er mich an jedem Morgen, legt sich dann ohne Widerspruch auf sein Bett und lässt die schmerzhafte Prozedur stumm über sich ergehen - nur eine Träne rinnt ihm einmal lautlos aus dem Auge.

Tagsüber dann, mit seiner Infusion versehen, ist er guter Dinge und einfach der liebenswürdigste Junge in der gesamten Station.

Nach einer Woche hat sich der Befund so weit gebessert, dass wir gefahrlos zu einer Weiterbehandlung mit Tabletten übergehen, die er natürlich auch ohne unser Zutun in der Unterkunft seiner Familie einnehmen kann.

Als wäre es ein lebender Schmetterling

Nachdem wir der Mutter die erforderliche Menge an Medikamenten ausgehändigt sowie die Einnahmevorschrift erläutert haben, nachdem er uns allen artig die Hand gegeben hat und sich schon auf dem Weg zurück ins Flüchtlingslager macht, drücke ich ihm zum Abschied noch schnell eine Handvoll ganz einfacher trockener Kekse aus unseren eigenen Vorräten in die Hand.

Ganz vorsichtig nimmt er die ungewohnte bröckelnde Köstlichkeit entgegen, probiert eine kleine Ecke und strahlt vor Freude. Dann teilt er die Kekse redlich zwischen sich, seiner Schwester und seiner Mutter auf und steckt seinen Anteil mit einer Behutsamkeit in seine Kitteltasche, als handele es sich um einen lebenden Schmetterling.

Als er uns dann endgültig verlässt an der Hand seiner Mutter, die ihn schon zur Eile drängt, schaut er sich im Gehen ständig zu uns um, lacht und winkt uns noch von der Straße so lange fröhlich zu, bis wir ihn inmitten der großen Menge der namenlosen Flüchtlinge auf ihrem Weg nicht mehr ausmachen können in Gubba zwischen Abu Shok und El Fasher.

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