Zum Tod von Dietrich Schwanitz:"Das Vordringliche, was ein deutscher Student lernen sollte, ist Rhetorik"

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Der 64-Jährige wurde tot in seiner Wohnung gefunden. Schwanitz schrieb Bestseller wie "Bildung" und "Der Campus". Vor gut einem Jahr inszenierte das SZ-Magazin ein Streitgespräch mit Ernst Peter Fischer, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Uni Konstanz, über das Thema Bildung. Ein Rückblick.

Moderation: Lars Reichardt

Schwanitz: Herr Fischer, hier sehen Sie ein Wandgemälde, wie gemacht, um Ihre Bildung vorzuführen.

Ernst Peter Fischer: Ein halber Tizian als Trompe-l'oeil-Malerei.

Schwanitz: Sie wollten sagen: ein ganzer Veronese, von der bekannten Trompe-l'oeil-Malerin Andrea Berthel-Duffing zur Apotheose Shakespeares umstilisiert. An dem Kind, das aus der Suppe steigt, sehen Sie, dass der Begriff der Bildung einmal rein sexuell gemeint war. Hintergrund und Vordergrund sind hell gehalten, der Mittelpunkt dunkel, das ergibt diesen Tunneleffekt.

Fischer: Und ich soll jetzt die Leute erkennen, die Sie zusätzlich darin unterbringen ließen, um gleich unser Gesprächsthema, die deutsche Bildungsmisere, zu demonstrieren?

Schwanitz: Wer über Bildung redet, dem will man eben gleich Bildungslücken nachweisen.

Fischer: Der mit dem Schädel in der Hand ist Hamlet.

Schwanitz: Bravo.

Fischer: Sie selbst sind ja auch drauf verewigt.

Schwanitz: Da hat sich die Malerin an mir gerächt, weil sie sich selbst als Lady Macbeth porträtieren musste. Diese Dame ist übrigens die Geliebte Shakespeares, die Dark Lady.

Fischer: Sie wissen sicherlich, dass Rosalind Franklin, die etwas unglückliche Dame in der Entdeckungsgeschichte der DNA, auch als Dark Lady bezeichnet wurde.

Schwanitz: Shakespeares Rosalind war alles andere als dunkel. Sie sehen, Herr Fischer, ich bediene ein wenig Ihr Vorurteil vom Bildungssnob. Dabei führen Sie einen auch wirklich in Versuchung, wenn Sie Shakespeare falsch zitieren.

Fischer: Ich zitiere im Buch eine Übersetzung. Woher soll ich wissen, dass die falsch ist?

Schwanitz: Indem Sie sie am Original prüfen.

Fischer: Das nächste Mal werde ich Sie um Rat fragen. Aber ich mache Ihnen zunächst mal ein Kompliment: Ich habe mein Buch Die andere Bildung lange vor Ihrem Bildungsbuch geschrieben. Es hat nur kein Verleger gewollt. Erst nach Ihrem Buch über die Geisteswissenschaften wollte man meins über die Naturwissenschaften. Insofern muss ich Ihnen dankbar sein. Wenngleich es natürlich grober Unfug von Ihnen ist, die Naturwissenschaften nicht zur Bildung zu zählen.

Schwanitz: Oh je, das habe ich befürchtet. Um es ein für alle Mal richtig zu stellen: Ich habe nicht beschrieben, was Bildung meiner An-sicht nach sein soll, sondern ich habe beo-bachtet, wie Bildung in unserer Gesellschaft aufgefasst wird. Und da stelle ich fest: Bildung wird als unterstelltes gemeinsames Wissen beobachtet. Das ist bei den Naturwissenschaften nicht der Fall. Sie beklagen das, geben aber absurderweise mir die Schuld daran. Ich habe aber nur...

Fischer: Ich muss an dieser Stelle mal einhaken. Ich kann ja nicht auf alles gleichzeitig antworten.

Schwanitz: Müssen Sie aber, Sie haben ja auch ein dickes Buch geschrieben.

Fischer: Ihres ist viel dicker. Um mit dem englischen Physiker und Romanschriftsteller C.P. Snow zu sprechen: Jeder zählt Shakespeares Sonette zur Bildung, aber nicht den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Dabei hat keiner die Sonette gelesen. Aber statt darauf stolz zu sein, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht zu kennen, sollten die Menschen lieber den Mut aufbringen, sich einmal mit den Naturwissenschaften auseinander zu setzen.

Schwanitz: Immer diese Appelle, auch in Ihrem Buch.

Fischer: Das ist mein einziger Appell. Naturwissenschaften sind leichter zu verstehen, als man denkt, wenn man sie geeignet vorführt.

Schwanitz: Das ist sicher richtig. Aber warum brauchen Sie den traditionellen Bildungsbürger als Feind? Diese Frontstellung gibt es doch gar nicht mehr. Außerdem behandle ich die Naturwissenschaften doch, und zwar in dem Maße, in dem sie die Weltbilder verändert haben.

Fischer: Ein bisserl Einstein, ein bisserl Freud, ein bisserl Darwin, und das alles sehr lax. Kein Heisenberg, kein Bohr. Auch Max Planck hat großartige, allgemein verständliche Texte geschrieben, über die großen Fragen der Mensch-heit - ganz ohne mathematische Formeln.

Schwanitz: Na, dafür treiben Sie ziemlich Hokuspokus. Richtig irreführend ist es, wenn Sie den Begriff der Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellen und damit Unmit- telbarkeit und Nähe suggerieren. Das ist geradezu ein Rückschritt gegenüber der Hirnforschung, die betont, dass auch unsere Wahrnehmung konstruiert ist. Da bin ich ja naturwissenschaftlicher als Sie.

Fischer: Reich-Ranicki übersieht Goethes Naturwissenschaft und Schwanitz auch. Sie können sich nicht herausreden. Der Untertitel Ihres Buches heißt: Alles, was man wissen muss. Und dazu zählen Sie die Physik eben nicht.

Schwanitz: Der Rest der Formel passte eben nicht mehr aufs Cover: Alles, was man wissen muss, um allein weiterzumachen.

Fischer: Die Ironie kommt nicht an.

Schwanitz: Und deshalb leiden Naturwissenschaftler? Weil die Bildungssnobs die Naturwissenschaften ignorieren?

Fischer: Wir leiden ungeheuer darunter. Das höre ich doch bei jedem Vortrag. Und Sie erteilen dazu die Absolution.

Schwanitz: Nein, das tue ich doch gar nicht.

Fischer: Sie sagen: Die Naturwissenschaften mögen einiges zum Verständnis der Natur beigetragen haben, zum Verständnis der Kultur haben sie nichts beigetragen.

Schwanitz: Ich sage, sie tragen nichts zur Kommunikation bei.

Fischer: Doch, auf Seite 481. Und damit treffen Sie bei Physikern und Chemikern einen ganz empfindlichen Punkt.

Schwanitz: Also gut, sollte ich das tatsächlich geschrieben haben, revoziere ich das jetzt.

Fischer: Wunderbar. Ich danke Ihnen.

Schwanitz: Mir geht es um ein ganz anderes Problem: In Deutschland ersetzt Bildung die Formen ziviler Geselligkeit, die in west- lichen Nationen von einer tonangebenden Society am Hof und in der Hauptstadt ausgebildet wurden und sich in der Gesellschaft verbreitet hatten. Im europäischen Ausland ist Bildung also Fähigkeit zur Kommunikation. Bei uns aber schlägt Bildung nach innen...

Fischer: Bildung ist das, worüber man gemeinsam sprechen könnte. Über Themen, die außerhalb meines beruflichen Feldes liegen. Wie kommt das Wetter zu Stande? Ich will dabei ja keine physikalischen Gesetze oder mathematischen Ableitungen diskutieren.

Schwanitz: Richtig, bei uns aber wurde Bildung gespenstisch. Weil sie - ohne Sitz im Leben - im Faschismus versagt hatte. Vor meinem Buch konnte man von Bildung nur mit Distanz sprechen, indem man das Wort wie "Büldung" aussprach.

Fischer: Ihr Buch hat tatsächlich eine Debatte darüber entfacht.

Schwanitz: Und weil das deutsche Bildungsbürgertum im Faschismus versagte, lehnten die Studenten auch den traditionellen Bildungskanon ab. Aber nehmen wir mal einen Bildungsschinken wie Hamlet. Er zeigt, dass der Protestantismus das Fegefeuer und damit den Kontakt mit den Toten abschafft. Das lassen sich die Toten nicht gefallen: Sie kommen als Geister wieder. Das heißt, eine kulturelle Ordnung, die wie bei uns die Bildung plötzlich abbricht, wird gespenstisch. Das zeigte die Re- aktion auf mein Buch! Die Intellektuellen wüteten gegen meinen Kanon - und außerdem sei er falsch. Sie sagen also: Das Gespenst gibt es nicht und außerdem haben wir Angst vor ihm!

Fischer: Das ist doch das Beste, was einem Autor passieren kann.

Schwanitz: Ja, aber diese Haltung lähmt das Land. Die Bildung ist ein geschlachteter Gott mit Tabus und Verboten: Du sollst laut Adorno kein Gedicht schreiben nach Auschwitz! Du sollst keine kulinarischen Storys erzählen, du sollst keinen Spaß haben an der Bildung! Eine Kultur des Trübsinns.

Fischer: Bildung muss Genuss schaffen. Die Naturwissenschaften haben schon in der Schule ein Problem damit. Kinder sind sehr neugierig auf Naturereignisse, etwa wie Licht gebrochen wird. In der Schule verschwinden solche Phänomene hinter Rechnungen, Licht wird zu einer schwarzen Linie degradiert, die an einem Spiegel gebrochen wird. Das nennt man Reflexion, ist aber nicht dasselbe, wie das Lichtspiel auf Wellen am See zu beobachten. Deswegen meine ich: Deutschlehrer können vielleicht Deutsch, aber Physiklehrer nicht unbedingt Physik. Es fehlt ihnen oft auch am Mut, die unmittelbaren Erfahrungen der Schüler anzusprechen.

Schwanitz: An wen appellieren Sie denn jetzt schon wieder? An den Weltraum? Ich mache jetzt mal den Appell, die allgemeine deutsche Appellitis etwas einzuschränken und lieber vorzuleben, wozu wir appellieren. Wie sieht es denn an den Schulen aus? Es gibt Probleme, die lassen sich möglicherweise gar nicht an der Stelle lösen, wo sie auftauchen. Ich glaube nicht, dass nur die Naturwissenschaften, Schulen oder Universitäten im Argen liegen. In Deutschland gab es durch das Dritte Reich den Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation, der 1968 schließlich auch zur Alternativbewegung mit ihrer Technikfeindlichkeit geführt hat. Technik ist immer böse. Die Schulen sind kaputt, gute Schüler werden nicht mehr prämiert, deswegen kriegen unsere Schulen auch die Naturwissenschaften nicht mehr hin.

Fischer: Aber die Grundeinstellung der sechziger Jahre war doch optimistisch. Man flog zum Mond und operierte Herzen. Damals wurden noch Deutschaufsätze über die Frage geschrieben, was die Wissenschaften zum Fortschritt der Menschheit beitrugen. Erst in den siebziger Jahren kam auf die Schüler die Frage zu, wie Technik die Umwelt zerstört.

Schwanitz: Jetzt endlich haben wir ein vernünftiges Thema. Was hat den Umschwung bewirkt? Bis 1968 gab es eine Verdrängungsmentalität. Es hieß, alles werde besser. Die Küchentechnik hat die Hausfrau emanzipiert, alles prima.

Fischer: Die Autos, die Gastarbeiter kamen.

Schwanitz: Aber warum geht das nicht weiter?

Fischer: 1969 landet man auf dem Mond und gleichzeitig taucht das Schlagwort Umweltschutz auf.

Schwanitz: Nein, die Dialektik der Aufklä-rung der Frankfurter Schule taucht auf. Die wissenschaftlichen Errungenschaften gelten auf einmal als höchst zweifelhafte Selbst- entfremdung des Menschen. Was rechts war, wird plötzlich links - das ist unser Problem. Mit dem Mond hat das nichts zu tun.

Fischer: Anfang der siebziger Jahre entdecken wir die Unlust am Fortschritt, dann kommt die Gentechnik, der unendliche Fortschritt. Da trifft die Naturwissenschaften die ganze Abneigung der Gesellschaft.

Schwanitz: Hätten wir ohne den Mond denn mit der Fortschrittslust weitergemacht?

Fischer: Die Gesellschaft hat die Geldmittel in die Krebsforschung umgeleitet, ohne be- sonderen Erfolg. Die Genforschung hat die negative Stimmung sicher verstärkt.

Schwanitz: Das ist für mich keine Erklärung.

Fischer: Die Technikfeindlichkeit kam auch, weil das Versprechen der Naturwissenschaften, das Leben bequemer zu machen, nicht eingelöst wurde.

Schwanitz: Wieso, die technischen Geräte machen unseren Alltag doch viel bequemer?

Fischer: Nein. Sie machen ihn komplizierter. Mehr Möglichkeiten verlangen viel mehr Einsatz. Man muss seinen PC, sein Handy verstehen. Davon war zuvor nie die Rede.

Schwanitz: Für junge Leute stellt die Tech- nik kein Problem dar.

Fischer: Ich rede von der breiten Öffentlichkeit.

Schwanitz: Nein, nach 1968 kam es zum Durchbruch guter alter Ideologien, die durch eine unterirdische Theoriewaschanlage von rechts nach links umetikettiert wurden: Geist als Widersacher der Seele, Antiamerikanismus im Kostüm des Antikapitalismus, gute Natur versus böse Gesellschaft. Und die Uni löste ihre Strukturen just in dem Moment auf, als sie sich für die neuen Massen öffnete. Und statt die Massen akademisch zu sozialisieren, wurde sie selbst zur Massen-Uni.

Fischer: Niemand liest mehr. Ich empfahl meinen Studenten einmal die Lektüre des Zauberbergs. Da wurde ich glatt gefragt, ob man das Buch denn ganz lesen müsse. In den sechziger Jahren war das Gymnasium noch intakt. Die verschiedenen Phänomene wie Technikfeindlichkeit und Gesamtschule verliefen parallel, hingen aber nicht unbedingt zusammen.

Schwanitz: Wie bitte?

Fischer: Irgendjemand kam Ende der sechziger Jahre auf die Idee, dass mehr Leute Abitur machen müssten. Nicht mehr das Individuum bildete daraufhin den Qualitätsmaßstab einer Schule, sondern die Masse. Der allgemeine Wohlstand spielte damals sicher auch eine Rolle. Dann taucht der Begriff vom Umweltschutz auf und 1972 auch noch die Studie des Club of Rome über die Wachstumsgrenzen.

Schwanitz: Nein, das gemeinsame Auftauchen dieser Phänome ist kein Zufall. In anderen Ländern verlief die Entwicklung ja längst nicht so dramatisch. In Oxford tauchten die Angry Young Men auf, die jungen Dramatiker, und heute heißt die größte englische Heldin Lady Di. Aber deswegen ist nicht gleich die gesamte englische Kultur zusammengebrochen. Unsere Sprache ist ruiniert, wir sprechen eine Art Pidgin-Deutsch, eine Plastiksprache ohne traditionellen Bilderreichtum, weil Eichendorffs Sprache durch den Nationalsozialismus ja suspekt wurde. Jeder mit unserer Geschichte würde bei der Irak-Berichterstattung die Parallelen zu 1945 sehen: die Wunderwaffen des Führers, die Selbstmordattentäter und Wer- wölfe, Tikrit und die Alpenfestung und die amerikanische Entnazifizierung. Bei CNN hört man diese Vergleiche, bei uns nicht. Warum? Die Vergleiche sind Todeszonen, ein falsches Wort - und ein Redakteur ist seinen Job los. Wir waren über vierzig Jahre nicht souverän, wir standen unter psychiatrischer Aufsicht, da verlieren die Wörter ihre De-ckung. Mir wurde schon gesagt, ich sei mu-tig. Was habe ich denn gemacht? Ich habe ein kritisches Buch über die Uni geschrieben, den Campus-Roman, da gilt man in Deutschland schon als mutig.

Fischer: Wir haben auch Probleme mit Ironie.

Schwanitz: Wir sind überhaupt nicht mehr in der Lage, die Dinge zu benennen, weil wir uns nicht trauen, auf unseren Erfahrungsschatz zurückzugreifen. Dabei bräuchten wir diese Bildung zum Verständnis der modernen Gesellschaft, die ja auch schwer zu begreifen ist. Da muss Bildung ein Fenster konstruieren, das ist wichtig. Auch naturwissenschaftliche Bildung.

Fischer: Naturwissenschaften sind leichter, als man denkt, viel leichter als Philosophie.

Schwanitz: Es gab ja mal Zeiten, in denen wir gute Naturwissenschaftler hervorgebracht haben.

Fischer: Heute kommen die meisten aus den USA.

Schwanitz: Mich fragte man einmal, was ich mir von deutschen Kultusministern wünschen würde, um der Bildungsmisere Herr zu werden. Meine Antwort lautete: "Clubsessel wären wirklich gut. Ordentliche Clubsessel." In der Hamburger Universität merkt der Student an allen Ecken, wie wenig er dem Senat wert ist. In Philadelphia - da war ich mal Gastdozent - lernt ein Student seinen Professor in Clubsesseln kennen. In meinem Hamburger Theaterworkshop hielten die Studenten, darunter viele Ausländer, Deutsch-land für trübe und für melancholisierend. Das können Sie aber nicht durch einen Bildungsgesamtplan korrigieren, dafür müssen Sie in die Details gehen. Ich könnte meinen Anglistik-Fachbereich sofort reformieren, ich wüsste, wie das geht.

Fischer: Durch Kleinigkeiten. Ich bekam in Amerika als Erstes ein Postfach. Und im Laboratorium hatten wir einen Raum mit Sofas und Büchern. Da traf man sich gern. Und die Türen der Professoren standen offen. Dazu bedarf es natürlich auch einer Menge Vertrauen und Ehrlichkeit.

Schwanitz: Ehrlichkeit? In Deutschland muss man Klausuren beaufsichtigen, in Amerika brauchen Sie das nicht. Die schummeln nicht.

Fischer: Jeder Student darf seine Examensarbeit sogar mit nach Hause nehmen.

Schwanitz: Kapitalistische Konkurrenz - ich will nicht, dass die anderen einen Vorteil haben, und verschaffe mir selbst auch keinen. In den USA ist der Kapitalismus anders eingefärbt als bei uns. Die Professoren können sich darauf verlassen, dass ihre Studenten nicht schummeln.

Fischer: Studenten dürfen sogar ihre Prüfungsfragen vorschlagen. Nicht so etwas Einfaches wie Shakespeares Geburtsdatum, sondern: Wie unterscheidet man eine Krebszelle von einer gesunden Zelle? Studenten bereiten sich auch gemeinsam aufs Examen vor und feiern dann gemeinsam. In Amerika freut man sich für den Gewinner.

Schwanitz: Dort herrscht eine Anerkennungs-kultur, bei uns eine Neidkultur.

Fischer: Ein Star-Professor fühlt sich dann auch in die Pflicht genommen, er erscheint morgens auch um acht zur Vorlesung, nicht erst nachmittags wie bei uns.

Schwanitz: In Deutschland können Sie die guten Studenten nicht mal von den schlechten trennen. Ich habe in Hamburg 25 Jahre lang einen Theaterworkshop betrieben, der wurde eine Langzeitstudie über das Versagen der Universität. Um erfolgreich zu sein, mussten wir praktisch jede Uni-Regel brechen. Wir entzo-gen uns der Verwaltung durch Gründung eines Fördervereins. Wir bestachen jeden Hausmeister mit Strö-men von Alkohol, um nach Dienstschluss proben zu können. Wir gründeten eine Zeitung, in der wir jeden Versuch der Verwaltung, uns admi-nistrativ zu erwürgen, öffentlich machten. Viele Studenten arbeiteten die Nächte durch und publi- zierten mehr als die Professoren. Warum? Weil sie den Schlüs- sel zur Bibliothek geklaut hatten.

Fischer: An meiner Uni in Konstanz ist die Bibliothek nachts auf. Da ist die Atmosphäre auch besser als in vielen Großstadt-Unis.

Schwanitz: Das sollte ja auch mal eine Forschungs-Uni werden.

Fischer: Max Dellbrück, mein Biologie-Professor, führte Spaghetti und Shakespeare ein, bei ihm zu Hause, für seine Studenten. Mehr Dellbrücks würden die deutsche Bildungsmisere schon beheben können.

Schwanitz: Das Vordringliche, was ein deutscher Student auch in jedem Theaterwork-shop lernen sollte, ist Rhetorik!

Fischer: Rhetorik ist eben ganz entschei- dend für uns alle, man muss Thesen vertreten können.

Schwanitz: Aber in Deutschland pflegt man den Authentizitätskult und betont das Spielerische der Bildung zu wenig. Unsere Studenten sollten mehr lernen, Thesen zu vertreten, an die sie gar nicht glauben. Das hätten wir beide hier auch miteinander machen sollen.

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