Wissen:Starke Mütter, kleine Kerle

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Wissenschaftler versuchen zu ergründen, warum gesunde Eltern häufiger Söhne als Töchter bekommen.

Von Marcus Anhäuser

Die Sache kam David Gamble aus dem australischen North Bald wyn merkwürdig vor: "Ich bin Geologe und habe drei Töchter. Alle meine männlichen Kollegen in der Geologie haben auch überwiegend Töchter. Ist das Zufall oder besteht da ein Zusammenhang?", stellte er die Frage an das Magazin New Scientist.

Dort konnte man ihm nur teilweise helfen: Für Geologen haben wir "keine Zahlen gefunden, aber in folgenden Berufsgruppen kennen wir ein ähnliches Bild: Taucher, Testpiloten, Astronauten, Anästhesisten und Radiologen sind eher Väter von Töchtern als Söhnen." Demnach hatten 58 australische Taucher in einer Untersuchung beispielsweise 85Mädchen und nur 45 Jungs.

Wenngleich die Chancen für eine Tochter oder einen Sohn - statistisch gesehen - annähernd eins zu eins stehen: Innerhalb einzelner Personengruppen oder zu bestimmten Zeiten entdecken Forscher immer wieder, dass ein Geschlecht tendenziell häufiger geboren wird. So bekamen Mütter in der Zeit der Weltkriege häufiger Söhne als in anderen Zeiten.

Nach dem Zusammenbruch der DDR registrierten Demographen, dass ostdeutsche Frauen 1991 eher Töchter zur Welt brachten. Und im Jahr 2003 berichtete die Anthropologin Ruth Mace vom University College London (ähnlich wie andere vorher), dass in Dörfern Äthiopiens in hungrigen Zeiten weniger Söhne auf die Welt kamen. Gab es aber einen Sohn, war die Mutter oft kräftiger und gesünder als die Mütter von Töchtern.

Unbewusstes Berechnen der eigenen Lebenserwartung

Nun bestätigt Sarah Jones von der University of Kent ebenfalls, dass Konstitution und Lebensumstände der Mütter das Pendel zwischen Junge und Mädchen ausschlagen lassen (1). Jones untersuchte die Geschlechterverteilung nicht in einem Entwicklungsland, sondern im gut situierten Gloucestershire im Südwesten Englands.

Dabei hatte die Anthropologin aber nur indirekt erforscht, wie gut es den Müttern gesundheitlich geht: Per Fragebogen wollte sie von mehr als 1700 Frauen unter anderem wissen, wie lange sie glaubten, noch zu leben.

Immerhin gehen Psychologen davon aus, dass Menschen aus ihrem aktuellen Gesundheitszustand, den Lebensbedingungen, Krankheiten in der Familie und dem Todesalter von Eltern und Großeltern unbewusst berechnen, wie hoch ihre Lebenserwartung ist. Je schlechter das Resultat ausfällt, desto früher werden sie wohl sterben, so die einfache Gleichung.

"Diese Selbsteinschätzung sagt ziemlich genau das tatsächliche Todesalter voraus, wie wir aus anderen Arbeiten wissen", so Jones in ihrem Fachartikel.

Als die Forscherin die Umfrageergebnisse mit dem Geschlecht der Erstgeburten in den letzten vier Jahren verglich, zeigte sich: Frauen, die optimistisch über ihre Lebenserwartung dachten, hatten häufiger einen Sohn bekommen. Jones' Erklärung: "Wenn Frauen glauben, nicht so lange zu leben, werden sie eher keine biologisch 'kostspieligen' Söhne gebären, um so nicht den Fortbestand ihrer Verwandtschaftslinie zu gefährden."

Aber was ist "kostspielig"? Jones wie ihre Kollegin Mace glauben, dass ihre Studien eine viel beachtete Theorie bestätigen. Mit ihr versuchen Forscher zu begründen, warum es in der Evolution sinnvoll sein könnte, dass die Zahl der Töchter und Söhne bei Lebewesen vom statistischen "Halbe-Halbe" abweichen soll. Unter Anthropologen und Evolutionsbiologen ist sie als "Trivers-Willard-Hypothese" (TWH) bekannt. Die US-Forscher Robert Trivers und Dan Willard formulierten sie 1973 im Fachblatt Science.

Töchter bekommen "immer einen ab"

Eltern könnten das Geschlechterverhältnis demnach so optimieren, dass ihnen möglichst viele Enkel ins Haus stehen. Prinzipiell aber können Männer mehr Nachkommen zeugen als Frauen, denen durch lange Schwangerschaften natürliche Grenzen bis zur Zeugung des nächsten Nachwuchses gesetzt sind. Männer können sich fast beliebig oft paaren.

Besonders im Tierreich sind Söhne das kostspieligere Geschlecht, weil sie schon während der Schwangerschaft mehr Energie benötigen: Sie sind meist größer und massiger als weiblicher Nachwuchs. Bei See-Elefanten etwa wiegt das ausgewachsene Männchen später viermal so viel wie die knapp eine Tonne schwere Kuh.

Viele Enkel gibt es aber nur, wenn es sich um wirkliche Prachtexemplare handelt, die im Buhlen um die Weibchen ihre Konkurrenten reihenweise ausstechen. Doch dafür müssen die Mütter besonders viel investiert haben. Reichen die Ressourcen der Eltern nur für "Schwächlinge", sind auch bei Männchen wenig Nachkommen zu erwarten.

Töchter dagegen bekommen aller evolutionsbiologischer Erfahrung nach "immer einen ab", auch wenn sie nicht so toll geraten sind. Da sie im Allgemeinen leichter aufzuziehen sind, so die Theorie, sollten Mütter also unter schlechten Bedingungen eher auf Töchter setzen.

Trivers und Willard entwickelten ihre Idee ursprünglich für Huftiere, sie wurde aber auf viele Tiere und auf den Menschen übertragen. "Seit der ersten Veröffentlichung sind sie etwa 1000 mal zitiert worden", beschreibt Elissa Cameron von der University of Pretoria in Südafrika die Bedeutung der Hypothese (2).

Während Ruth Mace und Sarah Jones die Idee durch ihre Arbeiten für den Menschen belegt sehen, ist das Bild für Cameron nicht eindeutig. Sie hat sich die Situation bei Säugetieren angesehen und kommt zu dem Schluss: "Von 422 Arbeiten bestätigen nur 34 Prozent die TWH, die meisten fanden keine signifikanten Resultate."

Auch Sven Krackow von der Universität Zürich bleibt skeptisch. Er hat vor einigen Jahren ebenfalls verschiedene Resultate zu der Theorie zusammengetragen: "Es gibt zwar Arbeiten, die das bestätigen, aber auch eine Menge, die nichts finden."

Seine Erklärung: "Die Effekte sind klein, die Untersuchungsgruppen oft leider auch und es wimmelt nur so von Faktoren, die man herausrechnen muss." Und selbst wenn sich statistisch ein Zusammenhang belegen lässt, bliebe eines offen: "Wir wissen nicht, wie eine Säugermutter überhaupt das Geschlechterverhältnis beeinflussen kann."

Wenn es nur so einfach wäre wie bei Bienen oder Ameisen. Denn wenn die Königin dort Männer meidet, gibt es automatisch männlichen Nachwuchs. Erst wenn es zum Sex kommt, bei dem Männchen das entscheidende Chromosom beisteuern, kommen weibliche Tiere auf die Welt.

"Warum muss die Evolution überhaupt eine Rolle spielen?"

Bei Säugern können Forscher nur spekulieren, wie die Auswahl zwischen männlichem und weiblichen Nachwuchs funktioniert. So könnte die Tatsache, dass Spermien mit Y-Chromosom leichter und schneller sind, das Geschlechterverhältnis beeinflussen. Auch Hormonlevel während der Befruchtung könnten eine Rolle spielen.

Zwar fanden Forscher eine ganze Liste von Faktoren, die beim Menschen zu einem veränderten Geschlechterverhältnis führten: Körpergewicht und Dominanz der Mutter, Zeitpunkt und Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, Jahreszeit, chemische Umweltbelastung, geographische Breite, Beruf des Vaters. Doch wie diese möglichen Faktoren schließlich über den Hormonhaushalt das Geschlecht des Nachwuchses bestimmen sollen, weiß niemand genau.

Ähnlich wie Krackow sieht auch Alexander Lerchl von der International University Bremen in Sarah Jones neuer Arbeit keinen klaren Beleg für die alte Hypothese: Eine Briefbefragung berge die Gefahr, dass sich Daten in eine Richtung verschieben. Zudem sei für viele unbewusst ein Sohn besser als eine Tochter. Ursache und Wirkung für die Ergebnisse der Befragung ließen sich daher nicht leicht unterscheiden.

Sven Krackow hat inzwischen sogar grundsätzlichere Zweifel an der Theorie: "Warum muss die Evolution überhaupt eine Rolle spielen?", fragt er. So lange man den Mechanismus nicht kenne, komme man nicht weiter. Doch da könnte Elissa Cameron vielleicht helfen.

Liegt es am Zuckerspiegel?

Sie glaubt, trotz aller Ungereimtheiten für Säugetiere einen Mechanismus für die Geschlechterwahl gefunden zu haben, wie sie in der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society schreibt: "Studien haben gezeigt, dass Glucose männliche Föten beim Wachstum unterstützt und weibliche stört."

Damit könnte der weibliche Körper in der Zeit um die Einnistung des Zellhaufens in das Geschlechterverhältnis eingreifen. So wäre eine Verbindung zur Konstitution der Mutter hergestellt: In schlechten Zeiten wäre der Zuckerspiegel niedrig, in guten Zeiten höher - mit entsprechenden Folgen für das Geschlecht.

Alexander Lerchl findet die These auf den ersten Blick interessant. Der lange Streit der Forscher um die Frage "Mädchen oder Junge?" ist damit aber auch für ihn noch nicht beendet: "Das muss man weiter untersuchen."

(1) The Royal Society Biology Letters online, 4.8.2004 (2) Proceedings of the Royal Society London B, Bd.271, S.1723, 2004

© SZ vom 10.08.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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