Vor dem Grand Prix:Weil sie zwei Mädchen sind

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Warum die Frage, ob das russische Pop-Duo "Tatu" lesbisch ist, völlig egal ist und auch ein bisschen dämlich.

(SZ vom 23.05.2003) Wenige Stunden noch bis zum großen Finale. Doch diesmal ist kein Beben zu hören, nicht mal eine leichte Erschütterung geht durchs Land. Nur zehn Prozent der Bundesbürger, das ergab eine Umfrage, wollen sich morgen den Grand Prix Eurovision de la Chanson aus dem lettischen Riga im Fernsehen anschauen - und da die Wetterämter Sonne melden, dürften es sicher noch ein paar weniger werden.

Auf der Grand-Prix-Probe traten tatu als ganz brave Mädchen auf. (Foto: AP)

Nur ein Prozent der Befragten glaubt an einen Sieg des deutschen Beitrags "Let's Get Happy" von Lou, ein Drittel gab sogar an, das Lied gar nicht zu kennen. "Let's Get Happy", das ist im Moment wahrscheinlich einfach die falsche Losung: Glücklichsein basiert nun mal nicht auf einer Willensentscheidung, und von einem rothaarigen Ralph-Siegel-Geschöpf, das stampfenden Disko-Frohsinn verbreitet, will man sich auch nicht befehlen lassen, trotz düsterer Wirtschaftsprognosen gefälligst ganz schnell happy zu werden.

Gesicherte Aufmerksamkeit

In Riga, darauf wetten wir, sitzen aber zwei russische Mädchen in ihrer Garderobe und sind überglücklich darüber, dass alle Aufmerksamkeit ihnen allein gehört. Die Frage ist: Werden Lena Katina und Yulia Volkova von Tatu wie angekündigt auf offener Bühne onanieren und Gummidildos als Mikrofone benutzen, oder werden sie sich, was sie gleichfalls angekündigt haben, gesittet verhalten und höchstens einen Kuss aufführen?

In diesem Fall wären vielleicht jene Zuschauer enttäuscht, die den Kuss schon kennen, aus ihrem Video zu "All The Things She Said" und von "Wetten, dass...?", wo die Kamera allerdings im entscheidenden Moment diskret wegschwenkte. Thomas Gottschalk, der Zotenkönig des deutschen Fernsehens, war ungewohnt sprachlos, als er den beiden Sängerinnen dann Blumen überreichte. Es schien, als hätten ihn zwei freche, smarte Mädchen mit seinen eigenen Mitteln geschlagen.

Gefeierte Heldinnen

Tatu ist das merkwürdigste Phänomen im aktuellen Popbetrieb: Yulia und Lena sind beide 18 Jahre alt, blutjunge Anfänger, und doch wirken ihre Auftritte altmeisterlich, abgebrüht spätpostmodernistisch; nichts an ihnen sieht nach Kampflesbentum aus, und doch sind sie in kürzester Zeit zu Ikonen für die gleichgeschlechtliche Liebe aufgestiegen, werden auf Schwulen-Websites im Internet als Heldinnen eines Befreiungskampfs verehrt; gleichzeitig genießt der Mainstream wohlige Schauer des Entzückens und der Entrüstung nach jeder ihrer gezielten Provokationen, und das in einer Zeit, in der dieses Konzept so verbraucht ist, dass man es nur noch gelegentlich im Studententheater findet.

Auf der Bühne liebkosen sie sich auf eine Weise, die Männer ermuntert, sich in ihr sexuelles Arrangement hineinzufantasieren - und doch scheint alles an ihnen zu sagen: Girls are doing it for themselves! Verführung und Verweigerung gehören untrennbar zusammen. "Wir machen uns nichts aus Männern", sagen die beiden.

Der Mann an ihrer Seite

Ein Satz, der komisch klingt, wenn man bedenkt, dass Tatu die Schöpfung eines Mannes ist, Ivan Shapovalov, studierter Kinderpsychologe und ehemals Chef einer Werbeagentur. Nach intensivem Studium von Werken wie Gustave Le Bons "Psychologie der Massen" versuchte er sich 1992 im gerade geborenen wilden russischen Kapitalismus zunächst als PR-Stratege im Wahlkampfstab des Gouverneurs von Saratow an der Wolga, später bewarb er Versicherungspolicen und Rentenfonds, McDonald's-Hamburger und den Ford Mondeo. Ende der neunziger Jahre, als mit der Rubelkrise der Import westlicher Konsumgüter zusammenbrach, erkannte Shapovalov, dass in Russland nun vaterländische Produkte gefragt waren und dass der Musikmarkt die größten Wachstumsraten versprach.

Geplantes Duo

Und so entstand am Reißbrett das Produkt Tatu, das je zur Hälfte aus den Inhaltsstoffen Kinderpsychologie und Verkaufskunst besteht. Shapovalov wusste, dass er listig vorgehen musste: Einerseits sollte Tatu die Jugendlichen begeistern, die durch MTV an sexuelle Überschreitungen gewohnt waren, andererseits durfte die Band die Obrigkeit nicht zu sehr verärgern. Der sittenstrenge Putin poltert schon lange gegen die Popkultur, die internationale Version von MTV ließ er abschalten, seitdem sehen die Russen eine entschärfte Variante. Immerhin lief das Video zu "All The Things She Said", in dem sich Lena und Yulia in kurzen Schulunifom-Röcken im Regen umarmen und küssen - für die meisten Russen ein unerhörter Tabubruch. Zu Sowjetzeiten war gleichgeschlechtliche Liebe verboten, Homosexuelle kamen ins Gefängnis oder ins Arbeitslager. Im Alltag werden sie auch heute noch diskriminiert, deshalb wagt es niemand, sich zu outen.

Erfolgreiches Konzept

Das Erstaunlichste an der Tatu-Story ist, dass das Konzept, mit nur geringfügigen Modifikationen, auch in den USA aufging, in Deutschland und England, wo es die Band bis auf den ersten Platz der Hitparade schaffte. Im Westen trafen Tatu auf eine allgemeine Pop-Müdigkeit, eine Sehnsucht nach Gefahr und Skandal, zudem war die Stelle von lesbischen Ikonen mit den lahmen Rockerinnen Melissa Etheridge und kdLang recht glanzlos besetzt.

Dämliche Frage

Ungeklärt bleibt dabei, ob Yulia und Lena wirklich lesbisch sind. Die Frage ist, zugegebenermaßen, ein wenig dämlich. Vermutlich sind die beiden genauso lesbisch wie Christina Aguilera eine kickboxende Stripperin ist und Keanu Reeves ein Kämpfer gegen die "Matrix". Nur ihrem Schöpfer Shapovalov kann es nicht egal sein, wenn sie in Interviews sagen, sie hätten feste Freunde und wünschten sich ein normales Familienleben. Morgen abend beim Grand Prix erscheinen sie vielleicht nackt. In diesem Fall wollen die Organisatoren statt des Live-Bilds Aufnahmen von den Proben einblenden. Kann ihnen nur recht sein, denn das hieße: Girls are doing it for themselves.

© Von Oliver Fuchs und Thomas Urban - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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