Der zweite Doppelmord passiert, während Kriminalbeamte die Opfer des ersten Doppelmordes untersuchen. Das ist belegbar, aus den späteren Analysen der Gerichtsmediziner zur Bestimmung der Todeszeit. Die Ermittler am Fundort der soeben entdeckten Leichen hätten die Schüsse, wie Rekonstruktionen dann ergaben, im Wald allerdings nicht hören können. Zwar ist der Tatort, wo die anderen Ermordeten gefunden wurden, nur achthundert Meter Luftlinie von ihnen entfernt, doch geschieht der zweite Mord in einer Senke, aus der keine Geräusche dringen. Auch das wurde später überprüft.
Den Anblick näher zu beschreiben, der sich ihm bot, als er und seine Kollegen am Nachmittag des 12. Juli 1989 am ersten Tatort eintreffen, verbietet sich Kommissar Dieter Weihser noch heute, fast zwanzig Jahre danach. Steht zwar alles im Protokoll, das er verfasste, in dürren Sätzen, sozusagen sich selbst schützend vor allzu genauer Beschreibung, aber, nein, schüttelt er heute den Kopf, nein, keine Details. Weihser, ein Brocken von Kerl, bärenruhig und doch stets sprungbereit, hat keine Illusionen, was seinen Beruf betrifft. Er hat zu viele Reformen und Reformen der Reformen erlebt, schöpft deshalb Kraft nur aus eigenem Antrieb.
Es ist ihm aber der kühle Ehrgeiz des Profis geblieben, ein Ehrgeiz, den Frusterlebnisse aus mehr als 31 Berufsjahren, hervorgerufen durch Verirrungen und Verwirrungen einer jede Leidenschaft erstickenden Bürokratie, nicht haben brechen können. Er regt sich ja auch nicht darüber auf, dass er bei einem zweiwöchigen Angelurlaub in Norwegen, täglich am Fluss stehend, nicht einen einzigen Lachs gefangen hat. "So ähnlich ist es doch mit manchen Fällen auch. Manchmal dauert es Jahre, bis man den Richtigen an der Angel hat, manchmal geht es schneller", und dass es auch mitunter gar nicht gelingt, weiß er. Doch er lehnt es ab, diese letzte Möglichkeit im Fall der Doppelmorde zu akzeptieren, bevor er pensioniert wird.
Skelettierte Reste
Er verschwendet nämlich keinen Gedanken darauf, das erlaubt er sich einfach nicht, den Fall seines Lebens ungelöst als Aktenzeichen hinterlassen zu müssen, wenn er pensioniert wird.
Eine Hitzewelle wie diese im Sommer 1989 hatte es in Niedersachsen schon seit Jahren nicht mehr gegeben. Drei Blaubeersammler waren auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen auf die Toten gestoßen, genauer gesagt: ihre laut Ermittlungsakte "stark mumifizierten und größtenteils skelettierten" Reste, verscharrt unter Tannenzweigen. Der Revierförster, den sie, geschockt, stolpernd, rennend Richtung Bundesstraße 216, im Forsthaus aufschreckten, hatte die Kriminalisten aus dem nahen Lüneburg alarmiert.
Ob es sich bei den Leichenteilen um das seit Ende Mai von ihren Töchtern als vermisst gemeldete Hamburger Ehepaar Ursula und Peter Reinold handelte, konnten Weihser und seine Kollegen vor Ort zwar noch nicht mit letzter Sicherheit bestätigen. Sie brauchten dafür die Bestätigung der Forensiker und des Zahnarztes, aber sie hegten damals kaum noch Zweifel daran.
Sie sind es tatsächlich. Ursula und Peter Reinold wurden brutal umgebracht, so viel steht sofort fest. Aber wie? Hat der Mörder sie erschossen oder hat er sie erst stranguliert oder waren zum Beispiel Wildschweine bei der Futtersuche auf sie getrampelt und ist deshalb bei Peter Reinold der Kehlkopf eingedrückt? Und wo ist ihre Bekleidung? Und wo das von den Kindern bei der Vermisstenmeldung als auffallend beschriebene Fernglas ihres Vaters? Und wo der Picknickkorb ihrer Mutter? Der Verdacht, dass es sich beim Fundort nicht um den Tatort handeln dürfte, bestätigt sich, als die Spurensicherung bis in eine Tiefe von dreißig Zentimetern den Boden abträgt, die Erde auf der Suche nach Projektilen durch ein Sieb schüttelt und nichts findet.
Hingerichtet per Kopfschuss
Vierzehn Tage später, am 27. Juli - es ist nach wie vor heiß und trocken - wird deshalb noch einmal mit Hundertschaften das Waldgebiet durchkämmt. Und dabei, also erneut per Zufall, finden Polizisten die anderen Opfer: einen Mann und eine Frau, hingerichtet per Kopfschuss aus einer Kleinkaliberwaffe 5,6 Millimeter, zum Teil an Händen und Füßen mit Leukoplast gefesselt, Gesicht nach unten, liegen vor ihnen in Jagen 147, achthundert Meter entfernt von Jagen 138. Der zweite Doppelmord. Die Bezeichnung "Jagen" klingt zwar passend, schwerblütig, nach erlegtem Wild, doch so werden im Staatswald Göhrde ganz simpel einzelne Flure und Abschnitte bezeichnet.
Dass es sich um Ingrid Warmbier und Bernd-Michael Köpping handelt, ist schnell ermittelt, denn die Leichen sind noch nicht verwest. Gemeinsam waren die beiden aus dem nahe gelegenen Bad Bevensen am 12. Juli nach dem Mittagessen in Köppings weißem Toyota zu einem kurzen Ausflug aufgebrochen. Seit jenem Tag, also genau dem Tag, an dem die Überreste der Reinolds entdeckt worden waren, ist das zweite Paar - ein Liebespaar, kein Ehepaar - nicht mehr gesehen und als vermisst gemeldet worden.
Die Benachrichtigung ihrer jeweiligen Partner, die nichts von der offensichtlich erst während einer Kur gewachsenen Liebesbeziehung von Warmbier und Köpping ahnten, erfordert deshalb zusätzlich Sensibilität. Eine Sonderkommission, zu der zeitweise siebenunddreißig Kriminalbeamte gehören, unter ihnen auch Kriminalkommissar Dieter Weihser aus Lüneburg, beginnt mit der Suche nach dem Täter.
Weihser lebt seit bald zwanzig Jahren täglich mit diesem mysteriösen Verbrechen, aber nicht etwa, weil vor dem Einschlafen sein letzter Gedanke und beim Aufwachen sein erster Gedanke dem unbekannten Mörder gilt. Sein kriminalistischer Alltag findet in der Provinz statt, wo man Morde und Mörder nur aus dem "Tatort" oder den Kriminalstatistiken der Großstädte kennt. Die Palette in seinen Fällen - Brandstiftung, Totschlag, Betrug - ist so bunt wie das Leben. Sie lassen ihm kaum Zeit für anderes.
Mord ist eigentlich nicht sein Geschäft. Geschweige denn vier Mordfälle, in denen es viele Theorien, aber kaum Indizien gibt. Die Erinnerung der Menschen ist verblasst. Weihser ist der Einzige, der sich nach wie vor in die Akten vertieft, auf der Suche nach einem winzigen Hinweis, den er und seine Kollegen möglicherweise 1989 doch übersehen haben könnten.
Der Totenwald - so wird der Staatsforst Göhrde wegen der vier Morde vom gedruckten und versendeten Boulevard getauft. Was naturgemäß Nebenwirkungen hat. Touristen meiden den größten Mischwald Norddeutschlands mit seinen berühmten Baumriesen. Hirsche und Rehe, Wildschweine und Mufflons bleiben unter sich. Die fünfundsiebzig Quadratkilometer, in denen einst der letzte Kaiser des Deutschen Reiches auf die Jagd ging, weshalb bis heute eine Station der Wendlandbahn als Kaiserbahnhof bezeichnet wird, gehören zum Landkreis Lüchow-Dannenberg, damals noch Zonenrandgebiet, und zum Landkreis Lüneburg.
Der Täter muss für seine Flucht an den Tagen, an denen er mordete, die Autos seiner Opfer benutzt haben. Das wissen die Beamten, die ihn unter sich den "Göhrde-Mörder" nennen, schon nach wenigen Tagen. Den Honda Civic der Reinolds entdecken sie dreihundert Meter vom Bahnhof Winsen (Luhe) entfernt, den Toyota Köppings in der Nähe der Kurklinik Bad Bevensen. Weil sich die Beerensammler nach dem ersten Schock daran erinnern, kurz vor dem Erreichen des Forsthauses im Wald einem kräftigen Mann mit braunem Haar begegnet zu sein, der einen dunklen Beutel in der Hand trug, gibt es sogar eine Phantomzeichnung des möglichen Täters. Mit dieser bewaffnet, klappern Ermittler sämtliche Hotels, Pensionen, Krankenhäuser, Kurkliniken der weiteren Umgebung ab.
Der Kommissar gibt nicht auf
Nichts. Ob der Gesuchte auf einem Hochsitz auf Liebespaare lauerte, weil ihn deren Anblick erregte, ob er sich seine Opfer zufällig aussuchte, ob er den zweiten Doppelmord beging, weil er die Walkie-Talkie-Geräusche der Beamten hörte, die sich dem ersten Fundort näherten, weiß niemand. Dass er möglicherweise psychisch krank, sexuell gestört, spontan aggressiv ist, steht seit damals im Täterprofil. Das kann stimmen oder auch nicht. Sicher ist, dass er ziemlich stark sein musste, denn die ersten Opfer hat er in die Senke geschleppt und dort verscharrt. Sicher ist, dass er Autorität ausgestrahlt haben dürfte, denn sonst hätte er sich wohl seinen Opfern nicht nähern können. Wahrscheinlich ist, dass er sich gut auskennt im Forst, denn sonst hätte er sich nicht die abgelegenen Gebiete in Jagen 138 und 147 für seine Verbrechen ausgesucht.
Gefunden haben sie ihn bis heute nicht.
Der Kommissar gibt die Jagd auch fast zwanzig Jahre nach den Doppelmorden nicht auf. Jeder Mensch hinterlässt Spuren, egal wo und wobei, das war zwar schon immer so, aber heutzutage lassen die sich auch nach so langer Zeit noch verwenden. Dieter Weihser, mittlerweile Hauptkommissar, hat immer wieder die Ermittlungsakten gelesen, sodass man ihn spontan nach Spur 1876 fragen und er sie nach kurzem Nachdenken nennen könnte. Insgesamt sind er und seine Kollegen damals 1911 Hinweisen nachgegangen, haben jedoch alle tot ermittelt, wie es in ihrer Sprache heißt. Darunter waren auch Verrückte und Spinner und Denunzianten, die alte Rechnungen begleichen wollten. Was normal ist bei solchen Aktionen und einer ehemals 50000 Mark, inzwischen 25000 Euro hohen Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen.
Das olivefarbene Fernglas Steiner Commander II 7X50 S, das Peter Reinold gehörte, und die Sofortbildkamera Image System Polaroid von Bernd-Michael Köpping sind seither zur Fahndung ausgeschrieben. Wahrscheinlich hat sie der Mörder seinen Opfern abgenommen, aber ob er sie spätestens nach dem Hinweis in der XY-Sendung des ZDF, ausgestrahlt im Dezember 1989, weggeworfen hat, weiß niemand. Immer dann, wenn ein identisches Fernglas in einem anderen Fall auftaucht, und immer dann, wenn sich dabei ein Kollege an die Göhrde-Morde erinnert, fährt Dieter Weihser los und macht sich kundig vor Ort. Alles vergebens.
Die Sonderkommission ist längst aufgelöst. Doch weil dieser Fall so einmalig ist, lässt er Weihser nicht los, und weil er keinen Partner mehr hat, mit dem er sich über die Morde austauschen kann, einen, der hinterfragt, was ihm keine Frage mehr wert ist, stellt sich der vereinsamte Jäger die Fragen selbst. Das gehört für ihn zum selbstverständlichen Handwerk eines Kriminalisten, das ist nichts Besonderes. Wie Weihser überhaupt Wert legt auf die Feststellung, nichts weiter zu machen als das, was sein Job verlangt.
Doch wenn er im Fall seines Lebens einen Ansatz entdeckt, auf den er bislang nicht gekommen ist, bohrt er weiter. Dann sagt er zu dem Unbekannten da irgendwo draußen: Pass auf, ich krieg dich doch. Es widerstrebt ihm, dass "einer mit einem vierfachen Mord ungestraft davon kommen soll".
Nein, wenn es nach ihm geht, dann nicht. Alles im Rahmen der Gesetze selbstverständlich, obwohl es ihm, wie vielen Kollegen, gewaltig stinkt, wenn wieder einmal ein geschickter Verteidiger, der seine Hausaufgaben moralfrei, aber effizienter als ein Staatsanwalt erledigt hat, einen Mandanten freipaukt, von dem alle im Gerichtssaal wissen: Der und kein anderer war's. Weil es nicht immer so recht klappt mit dem Recht, glaubt Weihser an Gerechtigkeit. Und zwar auf Erden, nicht erst danach.
Mag sogar sein, dass er dem Mann bei seinen Ermittlungen schon mal begegnet ist. Mag andererseits sein, dass der Mann, der gemordet hat, tot oder über die wenige Monate nach den Morden offene deutsche Grenze verschwunden ist, oder dass er in einer geschlossenen Anstalt sitzt.
Das Prinzip Hoffnung steht dagegen: Übersetzt aus den geistigen Höhen Blochs in die Niederungen des Lüneburger Kommissariats heißt das so viel wie: auf den Zufall hoffen. Hoffen, dass sich der Mörder verrät, während er in einem anderen Fall im Visier der Fahnder ist. Beispielsweise haben sie vor Jahren den Mörder eines jungen Mädchens nur deshalb gefasst, weil bei einer Hausdurchsuchung, bei der es um ganz andere Delikte ging, einem der Beamten ein defekter Gürtel aufgefallen war, der in der Wohnung herumlag. Und weil der Kripomann auch im Fall des Mädchens ermittelte, wusste er sofort, dass dieses fehlende Gürtelstück bei der Ermordeten gefunden worden war. Ein Fall von Zufall. Einem anderen Kollegen wäre das, logisch, nicht aufgefallen.
Zum anderen könnte am Ende der Fortschritt helfen. Denn inzwischen gibt es einen ganz besonderen Freund und Helfer der Polizei. Die vor elf Jahren aufgebaute DNS-Analyse-Datei des Bundeskriminalamtes, in der Spuren und Personendateien gespeichert sind, angeliefert von allen Landeskriminalämtern, ist zum erfolgreichsten Instrument der Verbrechensbekämpfung geworden. Mittlerweile sind beim BKA fast 800 000 Datensätze festgehalten, jeden Monat kommen rund 10 000 neue hinzu. Und mit Hilfe der modernen Technik führte schon jede dritte Analyse zu Festnahmen, auch Jahrzehnte nach einer Tat. Geeignet sind dafür Blutspuren, Hautpartikelchen, Knochenfragmente, einzelne, telogene Haare ohne Zellanhaftungen und solche mit Wurzeln, Speichelreste. Ein daraus gewonnener, molekulargenetischer Code, der Treffer in jener Datenbank erlauben würde, ist Weihsers anderes Prinzip Hoffnung. Da Mord nicht verjährt, kann er sich sogar Zeit lassen.
Ein Haar ohne Wurzel
Früher musste jede einzelne DNS-Analyse von einem Richter genehmigt werden, doch die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen wurden geändert. Verboten ist es nach wie vor, spezielle genetische Veranlagungen von Personen zu ermitteln, aber wenn die Analyse einer Spur einen Personentreffer ergibt, darf dies vor Gericht verwendet werden. Man sollte sich das jedoch in der alltäglichen Praxis nicht so spektakulär atemberaubend spannend vorstellen wie die Arbeit der Ermittler in der britischen BBC-Serie "Waking the Dead". Doch das Wecken der Toten aus verstaubten Akten mittels modernster Methoden hat bislang bei mehr als dreißig Prozent von bereits tot ermittelten Fällen zu Verhaftungen der Täter geführt. Wie bei dem Mord an einer 16-jährigen Frankfurterin, der 2006, also fünfundzwanzig Jahre nach der Tat, dank einer DNS-Analyse aufgeklärt wurde. Oder wie 2003 bei der Festnahme eines Mannes, der 1988 in Brandenburg eine 13-jährige Schülerin umgebracht hatte.
Ein Haar ohne Wurzel kann nur einmal getestet werden, ist danach im wahrsten Sinn des Wortes verbrannt für immer. Dieter Weihser hat deshalb nur einen einzigen Schuss frei, das, was er noch im Köcher hat, ist nur ein Mal verwendbar, es wäre verbraucht in dem Moment, in dem es untersucht und dabei bei keiner der molekulargenetisch erzielten Zahlenwerte eine Übereinstimmung gefunden wird. Weihser muss seine letzte Spur deshalb schonen und pflegen, muss sie hüten wie einen kostbaren Schatz. "Die Zeit arbeitet für mich", sagt Weihser, "weil die Wissenschaft immer schneller neue Methoden entwickelt, die das Risiko eines Fehlschusses mindern. Und weil die DNS-Datenbank immer umfangreicher wird."
Der Fall seines Lebens hängt also, wie Weihser es umschreibt, an einem einzigen, dünnen Haar. Es ist in einem der Fluchtfahrzeuge gefunden worden und konnte mit Sicherheit keinem der vier Opfer zugeordnet werden.
Die Toten lassen Weihser nicht ruhen. Er ist so etwas wie der letzte Schlüssel zu ihrem Schicksal. Am Ende will er dem Mörder, den er nie bewusst gesehen hat und doch so gut kennt wie kein anderer, ins Gesicht schauen und ihm, natürlich ganz kühl, wie es seine norddeutsche Art ist, sagen können: Das war's. Ich hab' dich. So wie er es auch zu einem Lachs sagen würde, egal, wie lange er darauf warten muss, bis der an seiner Angel zappelt.