Urteil im Karolina-Prozess:Jenseits aller Gefühle

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Die dreijährige Karolina starb in einer Orgie der Gewalt. Ihre Mutter ist nun zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden, deren Liebhaber zu zehn Jahren und drei Monaten. Der Prozess hat auch zutage gebracht, dass keine Erklärung ausreicht.

Von Hans Holzhaider

Im Kaukasischen Kreidekreis von Bert Brecht muss ein Richter entscheiden, welche von zwei Frauen, die Anspruch auf ein Kind erheben, die wahre Mutter ist. Er befiehlt ihnen, jede solle an einem Arm des Kindes ziehen - welche das Kind an sich reißen könne, die sei die Mutter.

Was soll man halten von Mehmet Akul und Zaneta Copik? Der Prozess hat gezeigt, dass keine Erklärung ausreicht. (Foto: Foto: ddp)

Eine der Frauen aber lässt das Kind los, weil sie ihm nicht weh tun will. Sie bekommt das Kind vom Richter zugesprochen. Daran erkenne man die wahre Mutter, will uns Brecht sagen: Ihr geht es nicht um Recht oder Eigentum, ihr geht es um das Wohl des Kindes.

Noch im Tod hin- und hergezerrt

Das Kind, um das es in diesen Tagen in einem Gerichtssaal in Memmingen geht, ist schon tot. Es wurde am 5. Januar 2004 in einer Toilette des Krankenhauses im schwäbischen Weißenhorn gefunden, bewusstlos, kahl geschoren, der Kopf ein einziger, grün-blau verfärbter Bluterguss, der Körper übersät mit Striemen und Brandwunden. Karolina, so hieß das Kind, starb zwei Tage später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Und noch im Tod wird dieses Kind hin- und her gezerrt und gestoßen von den zwei Menschen, die am Donnerstag verurteilt worden sind: Zaneta Copik, polnische Staatsangehörige, 26 Jahre alt, die für sich in Anspruch nimmt, Karolinas Mutter gewesen zu sein, und Mehmet Akul, in Deutschland geborener Türke, 31 Jahre alt, Zanetas Lebensgefährte? Partner? Geliebter? Beischläfer? - das rechte Wort will einem nicht einfallen für die Art von Beziehung, die zwischen diesen beiden knapp zwei Monate lang bestanden hat.

Jetzt jedenfalls hassen sie sich, versuchen nach besten Kräften, sich gegenseitig die Schuld für die Tragödie zuzuschieben, die sich in den ersten vier Tagen des Jahres 2004 in einem Einfamilienhaus im Weißenhorner Ortsteil Biberachzell zugetragen hat.

"Sie war mein Herzblatt"

Sie: "Er ist außer sich geraten, wenn ich aufgestanden bin, um ihr Frühstück zu machen. Er hat mir vorgeworfen, dass ich nur für das Kind da bin." Er: "Sie ist immer bis mittags im Bett geblieben. Sie wollte Sex, also hab' ich Sex gemacht." Sie: "Ich habe ihn angeschrien, dass ich nicht will, dass meine Tochter so erzogen wird." Er: "Immer hat sie gesagt, Mehmet, das Kind folgt nicht. Dass ich was tun soll." Sie: "Ich wollte ihn verlassen. Ich hatte meine Tasche gepackt. Er hat gedroht, wenn ich gehe, würde er das Kind mit dem Säbel aufspießen." Er: "Ich wollte ausziehen, da fing sie an zu weinen. Sie sagte, wenn ich gehe, fängt sie wieder mit der Prostitution an." Sie: "Ich habe dieses Kind neun Monate in meinem Bauch getragen. Sie war mein Herzblatt." Er: "Wenn sie getrunken hat, hat sie auch das Kind geschlagen. Einmal hat sie es auf den Lattenrost vom Bett geschmissen. Sie hat gesagt, sie hätte es damals sowieso abtreiben wollen." Sie: "Monster! Scheusal! Ich hoffe, du bekommst deine Strafe von Gott!" Er: "Teufelin! Sag die Wahrheit! Zieh' hier keine Show ab!"

Wenn man das mit anhört, und wenn man dann den Bericht des Gerichtsmediziners Wolfgang Eisenmenger hört, der sagt, es sei tatsächlich leichter, die nicht verletzten Körperregionen der toten Karolina aufzuzählen als die, an denen die Spuren von Gewalteinwirkung zu erkennen waren, wenn man ihn reden hört von den "streifigen Verfärbungen am Rücken von den Schultern bis zu den Lenden, verursacht wohl durch einen Gürtel oder Stock", von den "rundlichen Verbrennungen, neun bis zehn beidseits am Gesäß, acht an den Oberschenkeln hinten, je eine an den Füßen", von den Verbrennungen an beiden Händen und Fußsohlen, schließlich von der eigentlichen Todesursache, dem Abriss einer Vene im Gehirn: "Das hat man häufig bei schweren Faustschlägen" - dann formt sich ganz von selbst der Gedanke im Kopf, dass es für dieses Kind womöglich ein Segen gewesen wäre, nicht geboren worden zu sein.

Eine Erklärung, wie es zu der Orgie von Gefühllosigkeit und Gewalt kommen konnte, der Karolina zum Opfer gefallen ist, hat der Prozess vor dem Landgericht Memmingen nicht liefern können.

Sicher ist Karolinas Mutter selbst nicht in einem Klima von Liebe und Geborgenheit aufgewachsen. Der Vater hatte die Familie früh verlassen, die Mutter hat nur schlecht von ihm gesprochen. Zaneta absolvierte in Polen sieben Jahre Schule, "dann bin ich nicht mehr hingegangen, ich hatte Probleme mit den Mitschülerinnen".

Pendeln zwischen Deutschland und Polen

Etwa um diese Zeit beschäftigte sie sich mit verschiedenen Kampfsportarten, Wrestling und Kickboxen. Als sie 16 war, wanderte ihre Mutter nach Deutschland aus. Zaneta blieb zunächst bei ihrer Großmutter, wurde dann vom neuen Ehemann der Mutter adoptiert, pendelte zwischen Deutschland und Polen hin und her, arbeitete in Polen als Table-Dancer, wurde schwanger aus einer flüchtigen Beziehung mit einem Türsteher.

Am 6. Dezember 2000 wird Karolina geboren. Zaneta bringt das Kind bei einer Bekannten unter, erst im Alter von neun Monaten nimmt sie es zu sich und geht mit ihm nach Deutschland. Sie lebt bei ihrer Mutter, die inzwischen wieder einen neuen Lebensgefährten hat.

Jerzy S., als Zeuge gehört, ist sichtlich bemüht, Zaneta nicht in ein schlechtes Licht zu rücken, aber einige Dinge muss er auf Nachfrage doch einräumen: Stimmt es, dass sie das Kind immer "Hure" gerufen hat? Nein, stimmt nicht. "Nur ab und zu ist ihr das Wort ausgerutscht." Dass sie sich nicht um das Kind gekümmert hat? Nein, "sie hat sich ganz normal gekümmert". Nur manchmal ist sie abends weggegangen und erst früh um fünf heimgekommen, und dann wollte sie bis nachmittags schlafen, "kann sein, dass sie dann geschimpft hat, wenn Kind sie gestört hat." Dass sie Karolina in ein Kinderheim geben wollte? Nein, sagt Jerzy S., "das hat sie nur gesagt bei Wut. Sie wollte auch eigenes Leben führen, da stand kleines Kind im Weg." Dass sie oft betrunken war? "Ab und zu schon." Dass es Streit mit der Mutter gab? "Sie ist ausgeflippt. Sie hat mit dem Handy nach ihrer Mutter geworfen. Hat aber nicht getroffen." Der Streit, sagt Jerzy S. sei entstanden, weil die Mutter Zaneta ermahnt habe, nicht so viel zu trinken.

Im Gepäck ein Ehrendolch

Das war im November 2003, als Mehmet Akul schon mit bei Zanetas Mutter wohnte. Mehmet und Zaneta kannten sich da nicht länger als ein paar Tage. "Sie hat mich geil gemacht", sagt Mehmet Akul, also verließ er kurzerhand seine damalige Lebensgefährtin und seine eigene kleine Tochter, nahm ein paar Sachen mit, darunter eine Machete, einen Baseballschläger und einen japanischen Ehrendolch, und zog bei Zaneta ein.

Akul ist seit seinem 15. Lebensjahr drogenabhängig, ein nahezu hoffnungsloser Fall. Es hat mit Haschisch begonnen, im Lauf der Jahre konsumierte er so gut wie jedes Rauschgift, das auf dem Markt war. 16 Mal war er in stationärer Behandlung im Bezirkskrankenhaus Günzburg, nie hat er eine Therapie durchgehalten.

Sein Vorstrafenregister ist lang, es reicht von Diebstahl über Bedrohung bis zur gefährlichen Körperverletzung. Einen Beruf hat er nie gelernt, jeden Job hat er über kurz oder lang wieder verloren wegen seiner Drogensucht. Zum Schluss war er im Methadonprogramm, "bis zu der Zeit, wo das passiert ist". Er habe ein anständiges Leben führen wollen, sagt er, "aber kein Führerschein, kein Beruf, niemand hat mich genommen." Und dann habe er die Copik kennen gelernt.

Zaneta muss aus der Wohnung ihrer Mutter weg, die Vermieterin hat gedroht, sie wolle sie anzeigen, Zaneta ist illegal in Deutschland. Mehmet hat eine Wohnung in Aussicht, möglicherweise ist das der Hauptgrund, warum Zaneta sich mit ihm abgibt. Anfang Dezember ziehen sie ein.

Explosion an Gewalt

Solange sie bei der Mutter wohnten, war Mehmet nett zu dem Kind, nahm es auf den Schoß, streichelte es. Kaum sind sie in der eigenen Wohnung, fängt er an, es zu schlagen. Der Vermieter sagt, er habe das fast jeden Tag gesehen, er habe den Akul deshalb zur Rede gestellt. Der Vermieter ist aber ein kleines, dürres Männchen, Akul ist 1,80 Meter groß, wiegt 90 Kilo und hat Pranken wie ein Grizzlybär, man kann sich leicht vorstellen, wie wirkungsvoll diese Intervention war.

Dennoch - warum die Situation in der Silvesternacht in dieser Weise eskaliert, warum es zu dieser Explosion an Gewalt gegen das wehrlose Kind kommt, das bleibt auch nach insgesamt sieben Prozesstagen ein Rätsel. Das Kind sollte folgen, sagt Akul.

Es aß zu langsam? Also wurde es in eine Kammer gestellt, und später in den finsteren, kalten Keller, da sollte es die Nacht stehen bleiben. Oben lagen Mehmet und Zaneta im Bett, und sie hörten das Kind im Keller weinen, und Akul sagte: "Das macht sie, um mich in Schwierigkeiten zu bringen." Das Kind (nicht ein Mal spricht Akul den Namen Karolina aus) schläft nicht sofort ein, wenn man es ins Bett legt? Also wird es aus dem Bett gezerrt und mit einem Ledergürtel ausgepeitscht. Das Kind schreit? Das kann Mehmet Akul nicht ertragen, dieses Schreien, diese "dünne Stimme". Also "kriegt es was", das Kind, mit der flachen Hand ins Gesicht, rechts und links, dass es mit dem Kopf gegen die Kommode oder gegen den Schrank kracht, und wenn es dann auf dem Boden liegt, brüllt Akul: "Steh auf, Bastard", und dann steht es auf und kriegt noch was.

Akul, der Hunde liebt

Und weil das Kind in Mehmet Akuls verzerrter Wahrnehmung immer noch nicht brav ist, kommt er auf die Idee, die Plastikköpfe seiner Methadonflaschen über dem Feuerzeug zu erhitzen und sie Karolina auf die nackte Haut zu drücken. "Was haben Sie sich dabei gedacht?" fragt ihn der Gerichtspsychiater Norbert Nedopil. "Was wollten Sie damit bewirken?"

Hilflos rudert Akul mit den Armen durch die Luft. Nedopil beharrt. So erziehe man doch nicht einmal einen Hund, hält er dem Angeklagten vor. Akul liebt Hunde, er hatte einen Dobermann, mit dem ist er in die Hundeschule gegangen, "damit er brav ist zu alten Leuten und zu Kindern". Niemals hätte er einem Hund so etwas angetan. Wieder ringt der bullige Mann um Worte, die nicht kommen wollen. "Was soll ich sagen", presst er schließlich heraus, "ich weiß nicht, warum ich mich so verhalten habe."

Perfekt gezupfte Augenbrauen

Und Zaneta, fragt Nedopil weiter, wie habe die sich denn verhalten in dieser Situation? "Normal", antwortet Akul. Jetzt muss der Psychiater um Worte ringen. "Das ist eine Situation", sagt er, "in der eine Mutter den Verstand verliert. Und wenn sie ihn nicht verliert, dann verhält sie sich nicht normal."

Ja, was soll man halten von Zaneta Copik, die tatenlos mit angesehen hat, wie der Mann, mit dem sie täglich Sex hatte, ihre kleine Tochter zu Tode quälte? Zur Verhandlung kommt sie im strengen, schwarzen Hosenanzug, immer mit perfekt gezupften Augenbrauen. Manchmal, wenn sie ihre Mutter oder ihre Schwester im Gerichtssaal entdeckt, lächelt sie, ein ganz bezauberndes Lächeln. Manchmal rastet sie aus, trommelt mit den Fäusten auf den Tisch, verflucht ihren Ex-Geliebten, aber das geht immer rasch vorbei.

Sie hätte weglaufen können

Sie sagt, sie habe nur aus Angst vor ihm nichts unternommen. Aber es gab ein Dutzend Gelegenheiten, einfach wegzugehen mit Karolina, wenn er schlief, wenn er nicht im Haus war. Noch im Krankenhaus, wo sie das nahezu tote Mädchen ablegte, hätte sie nur ins nächste Arztzimmer zu gehen brauchen, während Mehmet im Fahrstuhl wartete. Auf der Flucht durch Italien, an jeder Tankstelle, in jedem Restaurant, hätte sie weglaufen und um Hilfe bitten können. Nichts davon hat sie getan.

Wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung Schutzbefohlener verurteilt das Landgericht Memmingen Mehmet Akul zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und drei Monaten. Nach dreijähriger Haftzeit soll er in die Psychatrie eingewiesen werden. Karolinas Mutter muss für fünfeinhalb Jahre ins Gefängnis.

© SZ vom 22.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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