Urteil im Kalinka-Prozess:Deutscher Arzt zu 15 Jahren Haft verurteilt

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Dieter K. soll 1982 seine Stieftochter Kalinka Bamberski ermordert haben. 30 Jahre nach dem Tod der damals 14-jährigen wurde der deutsche Arzt nun in Paris zu 15 Jahren Haft verurteilt. Für Kalinkas leiblichen Vater geht damit ein langer Leidensweg zu Ende - doch eine Frage bleibt.

In Paris ist heute einer der spektakulärsten Kriminalfälle der vergangenen Jahre zu Ende gegangen: der Fall Kalinka. Ein französisches Gericht hat den deutschen Arzt Dieter K. für schuldig gesprochen, seiner Stieftochter Kalinka 1982 vorsätzlich Gewalt angetan und sie damit unbeabsichtigt getötet zu haben. Es verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft. Als erschwerende Umstände sah es die Minderjährigkeit von Kalinka und ihr Abhängigkeitsverhältnis zu Dieter K. an.

Andre Bamberski (Mitte), der leibliche Vater der vor fast drei Jahrzehnten getöteten Kalinka Bamberski, im Gerichtsgebäude in Paris. Jahrelang auf diesen Augenblick gewartet. (Foto: dpa)

Dessen Anwald, Yves Levano, kündigte an, sofort Berufung gegen das Urteil einzulegen. "Wir sind enttäuscht, das ist sicher", sagte er. Aber der Fall werde weitergehen. Das Gericht gab Dieter K. für die Berufung zehn Tage Zeit. Die Verteidigung hatte einen Freispruch für den Arzt gefordert, der aus dem Kreis Lindau am Bodensee stammt.

30 Jahre sind seit dem Tod des Mädchens vergangen. Erst seit März 2011 musste sich der deutsche Arzt dafür erstmals vor Gericht verantworten. Um zu erreichen, dass im März 2011 das Geschehen von einem Geschworenengericht neu bewertet wurde, beging Kalinkas leiblicher Vater selbst ein Verbrechen: Im Oktober 2009 ließ er K. gewaltsam nach Frankreich bringen.

Später behauptete er, drei Männer aus Osteuropa hätten ihm angeboten, den Arzt zu entführen, er hätte die Tat lediglich gebilligt. Deutschland erhob Einspruch gegen die Verschleppung seines Bürgers. Doch die französische Justiz ließ sich nicht beirren und setzte den Prozess an.

Der Fall steht von Anfang an unter dem Zeichen mysteriöser Umstände und verschlampter Beweise.

Kalinka Bamberski lebte mit ihrer Mutter und dem Stiefvater Dieter K. in Lindau. Am 9. Juli 1982 kam die 14-Jährige, ein gesundes, sportliches Mädchen, von einem Badetag am Bodensee nach Hause. Am Abend spritzt der Arzt seiner Stieftochter ein Eisenpräparat, angeblich, weil sie an Anämie leidet - eine Diagnose, die Mediziner ebenso in Frage stellen wie die Behandlungsmethode. Am nächsten Morgen lag Kalinka tot in ihrem Bett.

Ignoranz und Schlampereien

Die Staatsanwaltschaft Kempten war nicht in der Lage, die Todesursache herauszufinden. Die Möglichkeit eines Sexualverbrechens wurde nicht in Erwägung gezogen. K. kam nie vor Gericht. Auch das Oberlandesgericht München sah keinerlei Hinweise für ein Verbrechen, weder für Mord noch für ein Sexualdelikt - und erklärte den Fall fünf Jahre später für erledigt.

Die Ignoranz und die Schlampereien im Fall Kalinka ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte: Die Autopsie erfolgte 60 Stunden später. Obwohl die sommerlichen Temperaturen den Verwesungsprozess beschleunigten, wurde die Leiche nicht gekühlt. Der Körper faulte bereits stark, als der Pathologe im Stadtkrankenhaus Memmingen seine Arbeit aufnahm - was die Untersuchung erschwerte.

Selbst ein Dehnungsriss an der Schamlippe des Mädchens führte nicht dazu, nach Rückständen von Sperma zu suchen - nicht einmal das Bettlaken wurde sichergestellt. Der Rechtsmediziner soll davon ausgegangen sein, dass die Verletzung nach dem Tode entstanden sei. Auch auf eine Untersuchung des Herzblutes nach Gift wurde verzichtet.

Urteil in Abwesenheit

Seit Jahrzehnten kämpft André Bamberski mittlerweile dafür, dass der mutmaßliche Mörder seiner Tochter zur Verantwortung gezogen wird. Der Franzose schickte Anträge an die deutsche und die französische Justiz, schrieb an Politiker, verteilte Flugblätter am Bodensee, sammelte Beweise und setzte einen Detektiv auf K. an.

Doch das deutsche Gericht sah keine Möglichkeit, dem Arzt die Tat nachzuweisen. Und Frankreich kam nicht an ihn ran. Immerhin wurde der deutsche Arzt 1995 von einem französischen Gericht wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Mittlerweile ist längst bekannt, dass K. eine Vorliebe für junge Mädchen hatte - und diese auch auslebte. Im Februar 1997 vergewaltigte der Arzt in seiner Lindauer Praxis eine 16-Jährige, der er zuvor eine Narkose verabreicht hatte. Das Landgericht Kempten verurteilte ihn wegen "sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger" zu zwei Jahren auf Bewährung.

Seit klar ist, dass der Angeklagte seine krankhafte Neigung nicht im Griff hatte, zeichnet sich auch ein mögliches Motiv ab: K. könnte seine Stieftochter mit der Absicht, sie zu missbrauchen, betäubt und dabei versehentlich getötet haben. Oder die Vergewaltigung hatte bereits stattgefunden und der Mediziner ermordete das Mädchen, um seine Tat zu vertuschen.

Was geschah wirklich?

Die drei Richter und neun Geschworenen folgten mit dem Urteil im Wesentlichen der Staatsanwaltschaft, die 15 Jahre Haft für Dieter K. gefordert hatte. Staatsanwalt Pierre Kramer war in seinem Plädoyer davon ausgegangen, dass Dieter K. geplant habe, seine Stieftochter zu vergewaltigen. Um sie gefügig zu machen, habe er ihr Beruhigungsmittel gespritzt - die Medikamente hätten das Mädchen jedoch getötet.

Dieter K. habe sich der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht, ohne dass ein Tötungsvorsatz vorgelegen habe, hatte Kramer in seinem Plädoyer gesagt.

Jahrelang hatte Bamberski auf diesen Augenblick gewartet: Nun wurde der Mörder seiner Tochter verurteilt. Was wirklich an jenem 10. Juli 1982 geschah, weiß er allerdings noch immer nicht.

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