Ungesundes Stadtleben:Betrübt in Berlin

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Auf einem Symposium diskutieren Ärzte und Psychiater, ob die Hauptstadt kränker macht als andere Orte.

Juan Moreno

Vielleicht sollte das gleich zu Beginn geklärt werden, sagt Michael Dettling, ärztlicher Leiter des Bereiches Sozialpsychiatrie an der Berliner Charité: Berlin macht nicht krank. Gerade habe ihn ein Radioreporter das gefragt und davor ein anderer Journalist.

Jedenfalls mache Berlin nicht kränker als München oder Köln, sagt Dettling. Depressionen kämen überall vor. In Städten. Auf dem Land. In reichen wie in armen Ländern. Depressionen sind gewissermaßen für alle da.

Dettling muss diese Fragen wegen der Pressemeldung beantworten. Darin wurde auf das von ihm organisierte Symposium "Depression in Berlin" hingewiesen, und da stand auch, dass die Fehlzeiten wegen Depression in Berlin über dem bundesweiten Durchschnitt liegen. Sie liegen bei knapp sechs Prozent und sind damit um mehr als die Hälfte höher als im übrigen Deutschland.

Die naheliegende Vermutung war, die deutsche Hauptstadt macht krank. Ein grauer Moloch, der bei den Leuten früher oder später Depressionen auslöst. Und über wenige Dinge schreiben zwangsversetzte Hauptstadtjournalisten lieber als über das, was sie schon lange glauben: Die bloße Existenz in der Hauptstadt kann nicht ohne gesundheitliche Folgen bleiben. Berlin macht depressiv, und nun gibt es sogar ein Symposium mit Vorträgen zu dieser Problematik.

Es gibt auch glückliche Menschen in Berlin

So kam es, dass Herr Dettling erst lange erklären muss, dass es gar nicht so schlimm ist, in dieser Stadt. Es gibt hier auch glückliche Menschen, man kann hier durchaus leben und unter keiner depressiven Störung leiden.

"Die hohe Zahl der Krankschreibungen kann auch daran liegen, dass es in dieser Stadt sehr viele Beamte gibt, die sich eher krank schreiben lassen können als Arbeitnehmer in anderen Städten, bei denen der Chef weniger Verständnis für eine solche Erkrankung hat", sagt Dettling.

Sein Kollege Professor Jürgen Staedt ist Depressionsexperte und kann durchaus einige Faktoren benennen, die Berlin-Kritiker in ihrer Meinung bestätigen dürfte. Staedt ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Memory Clinic in Berlin-Spandau und Leiter des Symposiums, das an diesem Samstag zu Ende geht.

"Diese Stadt hat 3,4Millionen Einwohner und 99000 Industriearbeitsplätze. Natürlich hat das einen Einfluss", sagt Staedt. Ein begünstigender Faktor für eine Depression, seien enttäuschte Phantasien. Davon gibt es mehr als genug in dieser Stadt.

Professor Staedt hat sehr viele Patienten mit einem schwierigen familiären Hintergrund aus so genannten Berliner Problembezirken. Ungelernte, Arbeitslose. "Stellen Sie sich nun vor, dass ich sage, dass die Psychopharmaka, die ich Ihnen verordnet habe, zu sexuellen Dysfunktionen und Übergewicht führen können. Und dass Sie mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit wieder depressiv werden", erklärt Staedt.

Wenn dann noch erschwerend hinzukomme, dass man in einer Stadt lebt, wo ungelernte Arbeiter so gut wie keine Jobchance geboten bekommen, da könne man schon verstehen, dass ein Patient sich fragt, warum er überhaupt noch gesund werden soll.

Es gebe Möglichkeiten, Dinge zu verbessern, meint Staedt. Manche seien leichter als andere zu realisieren. "Es würde meine Arbeit erleichtern, wenn die Menschen in dieser Stadt wieder eine bessere Zukunftsperspektive hätten, das aber ist Aufgabe der Politik."

Mit einer Depression zum Hautarzt

Leichter umzusetzen und ebenfalls nötig sei es jedoch, die Weiterbildungsverordnung für Hausärzte zu ändern. Noch immer falle da die Depression hinten runter. 60 bis 70 Prozent der Ersterkrankten gehen zum Hausarzt, und da wird eine Depression nur in der Hälfte aller Fälle erkannt. Ebenfalls sei bekannt, dass die meisten Selbstmörder vor ihrer Tat zum Arzt gingen, sagt Staedt.

Wie verkehrt jedoch das Vorurteil ist, dass grundsätzlich in großen Städten die Menschen eher psychisch erkranken als in ländlichen Gegenden, zeigt sich während des Symposiums bei einem Vortrag von Professor Harvey Brenner. Der Epidemiologe lehrt an der Technischen Universität Berlin und der John-Hopkins-Universität in Baltimore, USA. Seine Studien haben ergeben, dass nicht etwa Ballungszentren wie Berlin depressive Störungen begünstigen, sondern eher ländliche Gegenden gefährdet sind.

Das Zusammenbrechen von Sozialsystemen, von etablierten Strukturen, der Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten trete mittlerweile auf dem Land deutlich stärker hervor, was die Gefahr von depressiven Störungen erhöhe, sagt Brenner. "Und wie epidemiologische Untersuchungen der letzten beiden Jahrzehnten übereinstimmend ergeben haben, erhöht Arbeitslosigkeit generell die Häufigkeit von Depressionserkrankungen beim Menschen."

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