Tschernobyl:Das Testfeld des Todes

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Unter seinem Beton-Sarkophag strahlt der Unglücksreaktor, die Menschen sterben und leiden - und um die Zahl der Opfer herrscht ein makabrer Streit.

Wolfgang Roth

Auf dem Dorfplatz von Bragin schnurrt fast ein Jahrhundert weißrussische Geschichte im Zeitraffer zusammen mit all ihren Verheerungen: Der in Erz gegossene Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, auf seinem imposanten Sockel, den Mantel lässig gerafft.

Igor Kostin
:Der GAU

Alle Bilder sind dem Buch von Igor Kostin "Tschernobyl - Nahaufnahme" entnommen. (Verlag Antje Kunstmann, 2006)

Könnte er den Kopf ein wenig drehen, er würde sicher mit Wohlgefallen auf den giftgrün angestrichenen T-34-Panzer schauen, das Symbol des Sieges über Nazi-Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg.

Direkt im Blick des Arbeiterführers aber liegt die silbern in der Sonne glänzende Büste des Wassili Iwanow Ignatenko. Ignatenko, der Feuerwehrmann aus Bragin, einer von vielen, die nach dem großen Knall in Block vier des Kernkraftwerks Tschernobyl auf dem Dach standen und mit Schaufeln und Füßen die brennenden Graphittrümmer in den geborstenen Leib des Reaktors beförderten.

Er überlebte zwei Wochen, und er war nicht der Erste und nicht der Letzte, der bei einem dieser Himmelfahrtskommandos den Tod fand.

Bragin liegt im Bezirk Gomel, einer der am stärksten heimgesuchten Gegenden des Landes, als die strahlende Wolke nach der Explosion des Reaktors am 26. April 1986 vom Wind nach Norden getrieben wurde.

In den ersten Tagen war es das kurzlebige radioaktive Iod, das sich bevorzugt in den Schilddrüsen der Kinder sammelte und dort bis heute zu einer signifikanten Zunahme von Tumoren führt.

Jetzt ist es vor allem das Cäsium 137, das Sorgen bereitet, es reicherte in breiter Fläche die Böden an. Mancher wünscht sich seitdem, die Zeit würde so schnell vergehen wie auf dem Dorfplatz von Bragin.

Aber Cäsium hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren, das bedeutet, dass sich nur alle 30 Jahre das strahlende Potenzial halbiert.

Dünger gegen Cäsium

Mit dem Cäsium werden wir fertig", sagt Nikolai Satschenko trotzig, ein Bürgermeister aus der Region, deren Flagge stolz neben der weißrussischen an der Wand hängt, nur überragt vom allgegenwärtigen Porträt des aktuellen Diktators Lukaschenko.

Die am schlimmsten betroffene Gegend haben sie kurzerhand zu einer Art Nationalpark umgewidmet, ein Refugium für mancherlei Getier, das von klugen Menschen gemieden wird.

Nicht alle sind so klug, sie essen Beeren, Wildfleisch und Pilze. In bestimmten Pilzsorten lassen sich noch Spitzenwerte von 50.000 Becquerel pro Kilogramm nachweisen - was in Deutschland gemessen wird, war hier sowieso nie der Rede wert.

Gegen solchen Leichtsinn sei eben nichts zu machen, sagt Bragins Bürgermeister Alexander Jatschenko. Ansonsten aber könne jeder kostenlos alle Lebensmittel messen lassen, kein Produkt komme in den Handel, wenn der Grenzwert überschritten sei.

Man kann es glauben oder nicht.

An die Menschen, die in der stark kontaminierten Zone leben und wirtschaften, kommt nicht jeder so leicht heran.

Bewaffnete Posten sichern die Zufahrtsstraßen.

Ein verfallener Stacheldrahtzaun markiert die 30 Kilometer breite Schutzzone rund um den Reaktor. (Foto: Foto: Reuters)

Nicht so ganz koschere Reisegruppen füttert man hier lieber mit offiziellen Verlautbarungen, auch dann, wenn sie unter der Flagge der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und der Gesellschaft für Strahlenschutz, Umwelt und Gesundheit aus Deutschland eingereist sind.

Für die letzte Gewissheit über die Folgen dieser atomaren Katastrophe ist es sowieso viel zu früh. Gomel ist, neben den ähnlich stark kontaminierten Gebieten in Russland und der Ukraine, ein langfristig angelegtes Testfeld.

Wie schnell und mit welchen Mitteln gelingt es, hier wieder unbelastete Lebensmittel zu erzeugen? Reichlich Mineraldünger soll den Transport des Cäsiums in die Nutzpflanzen verhindern.

Testfeld für Krankheit und Tod

Zuckerrüben und Raps ersetzen Getreide. Milch wird, wenn der Grenzwert überschritten ist, zu Butter verarbeitet, die Molke entsorgt. Wo einst Milchkühe grasten, weiden jetzt auch französische Limousin-Rinder, weil die Fleischverwertung weniger Probleme bereitet.

Es ist aber vor allem ein Testfeld, das neuen Aufschluss darüber geben kann, wie viel Krankheit und Tod ein ziviles Kernkraftwerk im schlimmsten Fall über die Bevölkerung bringt.

Es gibt Schätzungen, medizinische Statistiken, Vergleiche mit der Dosis, der die Menschen nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki ausgesetzt waren.

Die niedrigste Zahl stammt aus dem vergangenen Jahr, aus einer Studie von Wissenschaftlern, zusammengefasst unter dem Namen "Tschernobyl-Forum", unter anderem im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation und der Internationalen Atomenergie-Behörde in Wien.

Letztere hat zumindest bei Kernkraftgegnern den Ruf, die Folgen von Tschernobyl systematisch verharmlost zu haben. Entsprechend kritisch reagierten viele auf die Zahlen: Insgesamt, so lautet diese Rechnung, könnten etwa 4000 Menschen wegen Tschernobyl vorzeitig sterben.

Alexej Okianow, Prorektor an der Sacharow-Universität in Minsk, hält in der Hauptstadt dagegen, freundlich, doch entschieden, und er hat die Stimmlage eines Nachrichtensprechers, obwohl er Ungeheuerliches vorbringt: "Wir haben in Weißrussland jetzt schon mehr als 4000 Todesfälle, wir rechnen mit 100.000."

Okianow spricht von einer deutlichen Zunahme diverser Krebsarten, gesichert erfasst zwischen den Jahren 1997 und 2003. Nach seiner Meinung ist die Einwirkung der Strahlung hier überhaupt nicht mit der in Japan zu vergleichen.

Daten ohne Grundlage?

Es gab immer schon viele Wahrheiten über Tschernobyl. Im großen Sowjetreich galt als Wahrheit, dass die eigenen Reaktoren die sichersten der Welt seien.

Als Tschernobyl nicht mehr im Sowjetreich lag, sondern in der formell unabhängigen Ukraine, galt in Russland noch lange die offizielle Version, dass nur mit einigen hundert Toten zu rechnen sei - ausschließlich unter jenen, die als "Liquidatoren" an dem zerstörten Block arbeiteten.

1995 wurde ein ukrainischer Minister mit den Worten zitiert, es gebe 130.000 Tote durch Tschernobyl. Nachfragen ergaben, dass es sich dabei um alle Personen gehandelt hatte, die in den kontaminierten Gebieten seit 1986 gestorben waren.

Es ist ein makabrer Tanz um Todeszahlen, der sich an jedem runden Datum seit der Katastrophe steigert.

Auf einer Reise, die von Weißrussland über die grenznahen Sperrgebiete in die Ukraine führt, wird deshalb viel über den Tod gesprochen. Er ist das Thema in der Klinik für Strahlenmedizin in Gomel.

Er ist auch gegenwärtig im radiologischen Institut in Kiew, wo Professor Prysyazhnyuk mit dem internationalen "Tschernobyl-Forum" genauso hart ins Gericht geht wie sein Kollege in Minsk: "Diese Daten haben keine Grundlage."

Es gebe in allen Regionen mit eingehender medizinischer Kontrolle seit 1990 mehr Krebserkrankungen, als zu erwarten gewesen wäre. Und das komme nicht nur von der höheren Kontrolldichte und den verbesserten Untersuchungen.

In derselben strahlenmedizinischen Klinik sitzt Viktor Nikolajewitsch Totschornij auf dem Flur. Er hat eine von vielen Therapien hinter sich und wird heute entlassen, also ist seine Frau zum Abholen gekommen. Sie kämmt ihm die widerspenstigen weißgrauen Haare, bevor er den Besuchern von damals erzählt.

Totschornij war in der Verwaltung eines Ministeriums beschäftigt und musste nach dem Unfall Lebensmittel, Kleidung und Baumaschinen für die Liquidatoren beschaffen. Er schlief in seinem Dienstfahrzeug, bis es wegen der Verstrahlung aus dem Verkehr gezogen wurde. Manchmal weint er.

Einmal aber lacht er, und einige Patienten auf dem Flur stimmen in das Lachen ein. Das ist an der Stelle, an der er auf Michail Gorbatschows Alkoholverbot zu sprechen kommt.

Sie haben es in großem Stil umgangen, haben eine ganze Ladung Wodka eingeschleppt, denn wer so hart und in so großer Gefahr arbeitet, der braucht auch ein wenig Entspannung.

Selbstmörderische Strahlenangst

Totschornij ist jetzt 74 Jahre alt, und ob seine spät festgestellte Knochenmarkskrankheit nun hundertprozentig auf die Folgen der Strahlung zurückzuführen ist, kann letztlich kein Mediziner sagen. Für den Patienten ist das so klar wie für die vielen Kinder, die seit 1986 im Schilddrüsenkrebs-Zentrum von Minsk operiert wurden und nun lebenslang Hormonpräparate einnehmen müssen.

Für den, der nicht an der notwendigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der radioaktiven Verseuchung beteiligt ist, treten die Todesstatistiken ohnehin in den Hintergrund vor all den anderen Zahlen, an denen nicht zu deuteln ist.

Die Lebenserwartung sinkt überall, Alkoholismus ist verbreitet, und viele haben Strahlenangst, die ihnen niemand, schon gar keiner aus dem Westen, nehmen kann mit dem Hinweis, er müsse diese Strahlenangst doch bitteschön nicht haben. Die Selbstmordrate unter den Liquidatoren ist extrem hoch.

Noch mehr Elend sollte eigentlich nicht nötig sein als Beleg dafür, was eine besonders riskante Reaktortechnik im Zusammenspiel mit einem besonders riskanten Betriebsexperiment anrichten kann.

Fast 400.000 Menschen wurden zu ihrem Schutz umgesiedelt, herausgerissen aus dem vertrauten Umfeld, irgendwo in Wohnblöcken untergebracht, wo die Alteingesessenen ihnen mit der Angst und dem Misstrauen derer begegneten, denen man eine ansteckende Seuche ins Haus einschleppt.

Im Tschernobylmuseum von Kiew, einer mit sakraler Mystik und nationaler Symbolik angereicherten Gedenkstätte, hängen Fotos, die einem Deutschen beklemmende, wenn auch unangemessene Assoziationen aufdrängen: Zu sehen sind in Schlangen aufgereihte Menschen mit Koffern, die darauf warten, ihre Heimat verlassen zu müssen.

Zwanzig Jahre ist das nun her, und es wirkt wie eine längst vergangene Zeit inmitten der pulsierenden ukrainischen Hauptstadt, in der die Zukunft für viele Orange trägt.

200 Kilometer weiter im Norden steht die Zeit seit 20 Jahren still, in Pripjat, der ehemaligen Stadt der Werksarbeiter mit ihren Familien. Die 50.000 Bewohner wurden am Tag nach dem Unfall binnen weniger Stunden in endlosen Bus-Karawanen aus der Stadt gebracht, eine logistische Meisterleistung, nur ein paar Kilometer vom Inferno entfernt.

Plünderer haben hier nichts mehr zu suchen. Kameraleute auch nicht, weil die Symbolbilder alle geschossen sind - das Riesenrad, die Parolen zum 1. Mai, die Puppe und die Schuhe, die im Kindergarten der Stadt zurückgelassen wurden.

Slawutitsch, die neue, rasch aus dem Boden gestampfte Werksstadt, liegt weiter entfernt von der Ende 2000 endgültig stillgelegten Anlage. Etwa 3500 Arbeiter sind noch mit den notwendigen Reparaturen und der Sicherung des Katastrophenreaktors beschäftigt, und ihr Weg führt nun zweimal täglich mit der Eisenbahn über weißrussisches Gebiet und durch die berüchtigte 30-Kilometer-Zone.

Strahlende Zukunft

Rumpelnd nähert sich der Zug jenem Atomkomplex, der in seiner Größe einmal seinesgleichen suchen sollte. Neben den vier Blöcken, die schon Strom produzierten, waren zwei weitere im Bau. Und auf der anderen Seite des Wassers sollten noch einmal sechs Blöcke entstehen. So strahlend leuchtete hier die Zukunft der Kernenergie bis zum April 1986.

Für den Besucher strahlt dieser Block vier in Tschernobyl mehr aus als die Aktivität radioaktiver Substanzen. Der Sarkophag ist ein riesiger Betonklotz mit stützenden Pfeilern, hier und dort eingefärbt vom Rost der Eisenteile.

Ein gewaltiger Klotz, eine profane Kathedrale der Technikgeschichte und gleichzeitig ihr Menetekel. Vor diesem Bau zu stehen ist wie die Annäherung an ein historisches Schlachtfeld.

Schauen und schaudern sind hier eins. Das Dosimeter zeigt am Zaun zehn Mikro-Sievert pro Stunde, ein Wert, der etwa um das Hundertfache über der natürlichen Strahlung in Berlin liegt. Überhaupt kein Problem für den flüchtigen Gast, aber viel näher sollte er sich nicht heranwagen, selbst wenn es erlaubt wäre.

Am Fuß des Sarkophags sind es schon 300 Mikro-Sievert und auf dem Dach etwa 20.000, womit dann dort in einer Stunde die zulässige Jahresdosis für beruflich strahlenexponierte Personen in Deutschland zusammenkäme.

Das Feinstaub-Mausoleum

Ins Innere des heißen Sargs möchte man da schon gar nicht, aber für solche Einblicke sorgt nun ein eineinhalb Meter breites Modell im Informationszentrum.

Die gute alte Puppenküche könnte Pate gestanden haben, wenn es sich hier nicht um den Einblick in einen ganz unwirklichen Raum handeln würde. Es ist ein Mikrokosmos, wie von Hieronymus Bosch gestaltet, nur nicht mit Kreaturen angefüllt, sondern mit Materialien aller Art.

Julia Marusitsch führt in diese Welt, sie hat die Haare knallrot gefärbt wie viele Frauen hier und spricht perfektes Englisch. Sie öffnet vorne die Außenwände, klappt die eine nach links, die andere nach rechts, und man sieht: ein chaotisches Durcheinander von Bauteilen, Trägern, Röhren und Kabeln, einen Seitentrakt, der von der Wucht der Explosionen aus der Statik gebogen wurde.

Was man nicht sieht, sind die rund 20 Tonnen hochradioaktiver Feinstaub, die in diesem Mausoleum lagern und, das ist die Hoffnung, so lange eingeschlossen bleiben, bis der zweite Sarkophag irgendwann auf Schienen über den ersten geschoben ist.

Es soll ein Bauwerk werden, gewaltig wie der Petersdom. Es soll das strahlende Inventar mitsamt den Brennstäben vor der Außenwelt abschirmen, während innen behutsam Teil für Teil abgetragen wird. Der zweite Sarkophag wird ein Mahnmal auf Dauer sein, so wie sich die Bewohner der stark verstrahlten Gebiete darauf eingerichtet haben, dass sie noch lange mit den Folgen der Katastrophe leben müssen.

Ihre Zeitrechnung ist ohnehin eine andere. Ob in Minsk oder Kiew, sie sagen, es habe eine Zeit vor dem 26. April 1986 gegeben und eine danach. Es klingt wie die Zeit v. Chr. und n. Chr.

© SZ vom 7.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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