Totgeglaubter Kanufahrer:Tristes Leben im Nachbarhaus

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Von wegen Abenteuer: Jahrelang hat sich der totgeglaubte britische Kanufahrer John Darwin im Nachbarhaus versteckt gehalten. Dort führte er ein tristes Leben - surfte stundenlang im Internet und las Romane.

Wolfgang Koydl

Der kleine Konrad entdeckt im Kleiderschrank seines Onkels Ringelhuth eine Abkürzung in die Südsee, und die Geschwister Peter, Susan, Edmund und Lucy Pevensie verschlägt es ins Zauberreich Narnia, als sie sich durch muffige Mäntel und Jacken in einem Schrank zwängen. Dass ein augenscheinlich so banales, doch in Kinderaugen latent bedrohliches Möbelstück die Pforte zu einem Paralleluniversum sein kann, hat nicht nur Schriftsteller wie Erich Kästner oder C.S. Lewis fasziniert, sondern auch Millionen ihrer Leser.

John Darwin vor der Polizeistation: Warum der 57-Jährige seinen Betrug auffliegen ließ, bleibt vorerst ein Rätsel. (Foto: Foto: AP)

Karg möbliertes Zimmer

Auch John Darwin verschwand in einem Kleiderschrank, wenn er zwischen zwei Welten hin- und herwandern wollte. Doch auf ihn warteten auf der anderen Seite keine Faune, Hexen oder Zwerge und noch nicht einmal ein schwarzweiß kariertes Mädchen namens Petersilie, sondern ein karg möbliertes Zimmer mit Bett, Tisch, Stuhl, TV und Computer.

Es war keine magische Welt, in die der 57-Jährige aus Seaton Carew eintauchte, sondern nur ein virtuelles Universum: Stundenlang surfte er im Internet, las Romane oder sah fern - für Tage, Wochen, Monate.

Der Mann, der als Gefängniswärter gearbeitet hatte, bevor er sich mit einem vorgetäuschten Tod aus dem realen Leben verabschiedete, muss sich der bitteren Ironie bewusst gewesen sein: Er saß in einer Zelle.

Ausgang hatte er nur bei schlechtem Wetter. Da konnte er sich eine Strickmütze ins Gesicht ziehen und mit einer Krücke als vermeintlich Lahmer die Strandpromenade entlanghinken.

Vermutlich ist es dieser Kontrast zwischen dem verlockenden Traum vom radikalen Neuanfang und der tristen, ja banalen Realität im neuen Leben des Ehepaares John und Anne Darwin aus Teesside, das die Öffentlichkeit nicht nur in Großbritannien, sondern auf der ganzen Welt in Bann geschlagen hat.

Wer hätte noch nie davon geträumt, alle Brücken hinter sich zu verbrennen, wegzutauchen und anderswo mit neuem Namen, neuer Existenz gleichsam wiedergeboren zu werden? Wer wünschte sich nicht manchmal, alle Probleme, Sorgen und Nöte abzustreifen wie einen alten Mantel?

Sein neues Leben war langweilig und spießig

Doch Darwins neues Leben war nicht aufregend und glamourös, sondern langweilig und spießig. Sein einziges Abenteuer war eine Internet-Affäre mit einer Hausfrau in Kansas. Der Kauf einer Jacht scheiterte an einer kleinkarierten Lappalie: Darwin wollte nicht auf ein Barometer verzichten, das der Vorbesitzer aus sentimentalen Gründen behalten wollte.

Und nichts demonstrierte die Spießigkeit des neuen Lebens der Darwins besser als das Foto, das sie in ihrer Wohnung im Viertel El Dorado von Panama City zeigte und das ihnen zum Verhängnis werden sollte: John mit Halbglatze, Bauchansatz und bis zum Adamsapfel zugeknöpftem Sporthemd könnte Filialstellenleiter einer Bank in einer Kleinstadt sein, Anne mit Schultertasche, Randlosbrille und grauem Kurzhaar eine brave Pastorentochter. Gutbürgerliche Leute, durchschnittlich und fast schon quälend normal.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie John Darwin vor fünf Jahren verschwand.

Doch es war alles andere als bürgerlich, durchschnittlich und normal, was sich John Darwin ausgedacht hatte und am Morgen des 21. März 2002 in die Tat umsetzte. So gegen neun Uhr muss es gewesen sein, als er aus seinem Haus in Nummer 4 The Cliff trat und ein rotes Kanu hinunter an den Strand schleppte.

Mittlerweile ist auch Darwins Frau Anne festgenommen worden. (Foto: Foto: AFP)

Es war ein windstiller und ungewöhnlich milder Tag, ideal für ein paar Bootslängen auf der See. Ungewöhnlich war freilich etwas anderes, was einen Bekannten, der ihn auf dem Weg zum Strand traf, verwundert fragen ließ: "Es war das erste Mal, das ich ihn mit einem Boot gesehen hatte; ich wusste nicht, dass er sich fürs Kanufahren interessierte."

Darwin kam von seinem Ausflug nie zurück. Eine aufwendige und teure Suche blieb erfolglos. Schon ein gutes Jahr später erklärte ein Gericht den Vater zweier erwachsener Söhne offiziell für tot, viel früher als die gemeinhin obligatorischen sieben Jahre, die bei mysteriösen Todesfällen verstreichen müssen.

Lebensversicherung wurde ausgezahlt, Arbeitgeber zahlte Abfindung

Für die vermeintliche Witwe endeten damit die finanziellen Sorgen, die das Ehepaar jahrelang gedrückt hatten: Die Lebensversicherung wurde fällig, Darwins Arbeitgeber zahlte eine großzügige Entschädigung, die Hypothek auf die beiden nebeneinander liegenden Häuser der Darwins in The Cliff wurde getilgt, und Anne bezog nun zusätzlich zu ihrem Gehalt als Rezeptionistin in einer Arztpraxis eine Witwenrente.

Doch als Anne Darwin von der Anhörung zurückkehrte, die ihren Mann amtlich für tot erklärte, wartete John zu Hause auf sie. Seit Monaten teilte er zu diesem Zeitpunkt mit seiner Frau wieder Tisch und Bett.

Eines Tages, so jedenfalls lautet Annes Version, sei er plötzlich vor der Türe gestanden - abgemagert und abgerissen, unrasiert und ungewaschen. Doch wenn Anne Darwin neugierig gewesen war, wo John seit seinem Verschwinden gelebt hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie steckte ihn in die Badewanne, kochte ihm ein Essen, und nahm ihn bei sich auf, als ob nichts gewesen wäre.

Niemand beachtete den verschrobenen Herren im Nachbarhaus

Wenn Besucher kamen, verschwand John Darwin durch den Kleiderschrank im Schlafzimmer ins Nebengebäude, das in Mini-Appartements aufgeteilt und an alleinstehende Männer vermietet worden war. Niemand beachtete den verschrobenen älteren Herren in der Wohnung im Obergeschoss, der ohnehin mit niemandem Kontakt suchte. Ja, und noch nicht einmal die Söhne Mark und Anthony wussten angeblich, dass ihr Vater noch am Leben war.

Mehr als zwei Jahre hielt dieses Arrangement, doch John Darwin wurde zusehends unruhiger in seinem selbstgewählten Gefängnis. Zugleich wurde er immer mutiger, ja fast schon frech.

Wie Anne berichtete, hatte er sich - ganz legal mit einem förmlichen Antrag bei der Passbehörde - einen neuen Pass auf den wenig phantasievollen Namen John Jones ausstellen lassen.

Mit ihm reiste er nach Gibraltar und Zypern und anschließend nach Panama. Auf das mittelamerikanische Land war Darwin bei seinen Internet-Recherchen gestoßen, nachdem er Australien und die Falkland-Inseln als Möglichkeiten für ein neues Leben in Erwägung gezogen und verworfen hatte.

Sobald ihr Entschluss gefasst war, legten die Darwins zügig die Grundlagen für den Neuanfang in Panama: Sie gründeten eine Art Briefkastenfirma, über die sie eine Wohnung kauften sowie ein knapp 200 Hektar großes Grundstück in Colon an der panamaischen Karibikküste sowie einen Toyota Land Cruiser für die Fahrten zwischen Stadt und Hazienda.

Knapp eine halbe Million Euro hatten die Darwins in ihr neues Leben investiert, die Häuser in Seaton Carew waren verkauft, das Geld war überwiesen, nichts hielt sie mehr in der alten Heimat.

Warum also riss John Darwin das aus Lug und Trug errichtete Kartenhaus ausgerechnet jetzt ein, indem er sich in London der Polizei stellte? Eine befriedigende Antwort auf diese Frage haben bislang weder Anne Darwin noch ihr Mann gegeben.

Noch ist unklar, ob auch Darwins Söhne von dem Betrug wussten

Die Ehefrau behauptete in Zeitungsinterviews, dass John einfach seine Söhne wiedersehen wollte. Doch hätte er sie nicht aus Panama anrufen und aufklären können? Ohnehin ist nicht absolut klar, ob die Söhne wirklich nicht in den Betrug eingeweiht waren. Wenige Wochen vor dem Auftauchen ihres Vaters kündigten sie ihre Arbeit; mittlerweile sind sie abgetaucht, nur die Polizei kennt ihren Aufenthaltsort. Und konnte John Darwin in seiner Heimatgemeinde wirklich so lange unentdeckt bleiben? Nur 6500 Menschen leben in Seaton Carew, und die Darwins waren keine Unbekannten.

Bis jetzt kennt man nur Annes Version, in der sie ihren Mann als Drahtzieher und sich selbst als Opfer darstellt. John Darwin hingegen, der in Haft ist und an diesem Montag offiziell wegen Betruges angeklagt wird, soll nach Angaben aus Polizeikreisen seine Frau belastet haben. Ohnehin wollen sich Bekannte erinnern, dass in der Ehe der Darwins immer Anne "die Hosen anhatte".

Mittlerweile ist Anne nach England zurückgekehrt und bei der Ankunft in Manchester festgenommen worden. Vielleicht bringen ihre Verhöre bei der Polizei Klarheit in die Sache, doch sicher ist das nicht. Fast ebenso stark wie die Polizei freilich dürften sich Drehbuchautoren für die Geschichte interessieren. Wer weiß - vielleicht gibt es ja in der Filmversion ein märchenhaftes Ende.

© SZ vom 10.12.2007/dmo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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