Todesstrafe in den USA:Briefe aus der Todeszelle

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Seit fünf Jahren schreibt eine Ethnologiestudentin einem Mörder in Texas, nun soll der Mann hingerichtet werden.

Alexandra Eul

Der schlimmste Moment für Katrin Pilling war nicht der, als die Email mit Robert Jean Hudsons Hinrichtungstermin kam. Der schlimmste Moment war der, als seine Frau zu ihr sagte, sie solle sich besser mit diesem Todesurteil abfinden.

Sieben Tage dauert es, bis ein Brief der 27-jährigen Ethnologie-Studentin Katrin Pilling bei ihrem Brieffreund, dem Todestrakt-Insassen Robert Jean Hudson, in Texas ankommt. Zuletzt schrieb sie ihm jeden Abend. (Foto: Foto: Eul)

Gerade noch hatte Katrin Pilling die vielen Unterschriften auf der Online-Petition durchgelesen. Vielleicht, so glaubte sie, würde die Todesstrafe in letzter Minute noch in lebenslange Haft umgewandelt. Bis die Email von Hudsons Frau kam, die doch eigentlich am meisten Hoffnung haben sollte. In diesem Moment hat Katrin Pilling das erste Mal verstanden, dass Robert Jean Hudson sterben wird.

Katrin Pilling sitzt am Esszimmertisch ihrer Wohngemeinschaft in Zürich. Hier lebt sie das ganz normale Leben einer 27-jährigen Studentin, schreibt an ihrer Abschlussarbeit in Ethnologie und verdient nebenher etwas Geld als Kinderbetreuerin. Seit fünf Jahren führt Katrin Pilling außerdem eine Brieffreundschaft mit dem Insassen eines Todestrakts in Texas, einem 45-jährigen Afroamerikaner. Hudson sitzt wegen Mordes seit acht Jahren im Gefängnis Polunsky Unit in Livingston, am kommenden Donnerstag, dem 20. November, soll sein Urteil vollstreckt werden: Tod durch Giftinjektion.

Auf dem Esszimmertisch liegt eine gelbe Mappe, auf die sie mit schwarzem Filzstift "Briefe von und an Robert" geschrieben hat. Es sind viele Briefe, hundertfünfzig Stück vielleicht, wenn sie die Kopien ihrer eigenen dazurechnet.

Der Häftling 999353

Den ersten Brief schrieb sie in Köln, damals war sie 22 Jahre alt. Sie hatte einen Artikel über Lifespark gelesen, eine Schweizer Organisation, die Brieffreundschaften mit zum Tode verurteilten Häftlingen vermittelt. Katrin war stolz darauf, mehr zu tun, als einfach nur gegen die Todesstrafe anzureden. "Das war ein bisschen naiv und auch etwas eitel", sagt sie heute.

Der Kontakt zu einem Todestrakt-Insassen ist eine psychische Belastung. Darauf weist Lifespark alle Bewerber hin. Etwa 60 Inhaftierte aus verschiedenen Gefängnissen stehen auf der Warteliste der Organisation. Nur zwei bis drei neue Schreiber melden sich im Monat. Manchmal auch gar keiner.

Die überwiegend männlichen Insassen warten oft mehr als ein Jahr auf einen schriftlichen Kontakt zur Außenwelt. Die Schreiber können Wünsche angeben: Alter und Geschlecht zum Beispiel. Oder keinen Gefangenen aus Texas, "weil dort die geringste Chance auf Begnadigung besteht und die Haftbedingungen am härtesten sind." Pilling hatte keine besonderen Wünsche.

Der erste Brief war schwierig. Als Katrin Pilling ihn nach all den Jahren aus der gelben Mappe zieht, muss sie ihn erst wieder lesen, um sich an die eigenen Worte zu erinnern. "Zu förmlich" findet sie ihre Premiere. So förmlich wie das standardisierte Lifespark-Schreiben, das vor fünf Jahren auf ihrem Schreibtisch in Köln lag; mit Hudsons Adresse und der Nummer, unter der er im Gefängnis geführt wird: 999353. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt weder ein Foto von Hudson, noch eine Idee, was er getan hatte.

"Lieber Robert, ich bin 22 Jahre alt und studiere Ethnologie in Köln." In seiner Antwort stand, er wolle auch gerne studieren, aber gerade müsse er sein Leben retten. "Hahaha!" Sie wunderte sich über seinen Galgenhumor. Schließlich saß er damals schon drei Jahre in Isolationshaft. Am kritischsten war der dritte Brief. In dem sie eine entscheidende Frage stellte: "Was hat dich in diese albtraumhafte Situation gebracht?" Einem Serienmörder oder einem Kinderschänder hätte sie vielleicht gar nicht mehr geantwortet.

Robert Jean Hudson wurde 1999 wegen Mordes verurteilt. An diesem Donnerstag soll er hingerichtet werden. (Foto: Foto: oh)

Sieben Tage dauert es jedes Mal, bis ein Brief in Texas ankommt. Dann vergehen mindestens noch zwei Wochen, bis Katrin Pilling eine Antwort bekommt. So lange konnte sie nach den dritten Brief nicht warten. Ein paar Tage hielt sie der Neugier stand. Dann startete sie Google und tippte Hudsons Namen ein.

Robert Jean Hudson hat im Mai 1999 seine damalige Freundin ermordet. Zeitungsberichten zufolge drang er gewaltsam in ihre Wohnung ein und stach mehrmals mit einem Messer auf sie ein. Ihren kleinen Sohn verletzte er dabei ebenso. Die Frau starb unmittelbar nach der Attacke. Der Junge konnte fliehen und rief die Polizei. Hudson wurde noch am Tatort verhaftet.

Der Fall war gut dokumentiert. Katrin Pilling hat die Artikel ausgedruckt und aufgehoben, in einer zweiten Mappe, in der sie Informationen über Haftbedingungen in Texas und die Todesstrafe sammelt. Heute würde sie Hudson nicht mehr googeln, sagt sie. Sie würde dem Menschen, mit dem sie eine Brieffreundschaft aufbauen will, die Möglichkeit geben, als Erster zu sprechen.

Hudson hat den Mord nie geleugnet. Aber aus seiner Feder klang alles ganz anders. Er habe die Messerattacke nicht geplant, schrieb er. Vielmehr sei die Situation in der Wohnung eskaliert. Das Kind habe er nicht absichtlich verletzt, es sei zwischen ihn und die Mutter gerannt. Er wolle in Berufung gehen, um lebenslänglich zu beantragen. "Frag mich alles, ich bin kein Lügner, Katrin."

Papier darf Katrin Pilling schicken, Fotos und Zeitungsartikel sind auch erlaubt. Alles andere sortieren die Gefängnismitarbeiter aus. Die Briefe werden im Mailroom des Gefängnisses geöffnet und auf Drogen und Waffen kontrolliert. Einmal hat sie Herbstlaub in einen Umschlag gesteckt. Die Wärter haben es Hudson gezeigt und dann weggeworfen.

"My dear friend", so nannte er sie von Anfang an. Katrin Pilling fand das erst befremdlich. Genauso befremdlich war schon immer ihre konträre Situation. Eine junge Ethnologin, die gerade dabei ist, die Welt zu erkunden - und ein Häftling, der seine Zelle nie wieder verlassen wird.

Am Anfang fiel es ihr deshalb schwer, über ihr Leben zu schreiben. Sie wusste nicht, ob Hudson es ertragen konnte, von Erlebnissen zu lesen, die er selber nicht mehr machen konnte. Aber er erklärte ihr, dass er genau das brauche, um in der Isolationshaft bei Verstand zu bleiben. "Stell dir vor, du musst alleine in deinem fensterlosen Badezimmer sitzen, jeden Tag und jede Nacht. Einmal am Tag darfst du für eine Stunde im Wohnzimmer spazieren gehen", schrieb er.

Also berichtete sie von ihrem Nebenjob als Sonnenblumenschneiderin und ihrem neuen Freund. Erzählte von dem Russischkurs in Sibirien. Schickte ihm Postkarten aus dem Frankreich-Urlaub und Fotos von ihrer Feldforschung im kirgisischen Hochgebirge.

Er schrieb über Gott und das Leben nach dem Tod. Über seine fünf Kinder, seine Urgroßmutter, die ihn erzogen hat und seine Zeit in der Schauspielklasse am College. Die Briefe in der gelben Mappe - sie sind eine Dokumentation von Katrin Pillings Leben und die Erinnerungsstütze eines zum Tode Verurteilten, der die Hoffnung nicht aufgibt.

Briefkontakt hatte Katrin Pilling immer nur zu Freunden. Freunde wiederum waren für sie Menschen, denen sie vertrauen konnte, denen sie nahe war. Keiner dieser Maßstäbe galt für die Beziehung zu Hudson. Mit der Zeit jedoch lernte sie seine Briefe immer mehr zu schätzen. Mit ihm, der gesellschaftlich nicht tiefer sinken konnte, sprach sie auch über ihre Fehler und Ängste.

"Hudson hat mich mit seinen Lebensweisheiten aber manchmal auch genervt", sagt sie. Irgendwann hat Hudson ein Foto von sich beigelegt. Es zeigt einen bulligen Mann hinter einer schusssicheren Scheibe in der Besucherzelle. Hudson lächelt, nur die schwarzen Ringe unter den Augen, der weiße Häftlingsanzug und seine Fettleibigkeit verraten seinen schlechten Zustand. Katrin Pilling fand Hudson sofort sympathisch, sein Umfeld dagegen erschreckend.

Bleibt es bei dem Todesurteil, dann wird Robert Jean Hudson am Donnerstag abgeholt und in ein Gefängnis in Huntsville gebracht. Dort befindet sich der Hinrichtungsraum. Wärter werden ihn hineinführen und an eine Liege schnallen. Dann injiziert der Henker das Gift.

Tod am Donnerstag

Katrin Pilling wird bei der Hinrichtung nicht dabei sein. Sie hat Hudson auch noch nie im Todestrakt in Livingston besucht. Er hat sie mehrmals eingeladen, aber sie hat sich nie getraut. Heute bereut sie ihre Angst. Sie hätte gerne einmal nach dem Telefonhörer neben der Besucherzelle gegriffen und seine Stimme gehört. Was sie stattdessen tun wird, das weiß sie nicht. Vielleicht muss sie arbeiten. Oder sie trifft sich mit einer Beraterin von Lifespark, die Schreiber betreut, die mit der Hinrichtung nicht zurechtkommen. Zuletzt schrieb sie Hudson jeden Abend einen Brief.

Sieben Briefe hat er ihr seit der Bekanntgabe seines Hinrichtungstermins geschickt. Er hat sich bei ihr bedankt und gesagt, dass er noch nicht aufgegeben hat. Seitdem hat Katrin wieder ein bisschen Hoffnung. Über einen neuen Brieffreund aus dem Todestrakt denkt sie nicht nach. Sie sagt: "Das wäre ja so, als wenn ich Robert schon beerdigt hätte."

© SZ vom 18.11.2008/age - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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