Thailand:Wenn die Stille alles sagt

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Eine Nacht im Krankenhaus bei Phuket, dem Sammelpunkt des Leidens: "Und dann kommen wir wieder und suchen unsere Frauen." Verzweiflung, Chaos, hilfloses Bemühen und endlose Trauer - wie zerbrechlich diejenigen, die überlebt haben, ihr Glück empfinden. Eine Reportage von Kai Strittmatter

Das Krankenhaus von Phang Nga, um Mitternacht. Hell erleuchtete Stationen, geschäftige Schwestern, dösende Patienten. Kaum einer hat einen festen Schlaf. Die meisten wachen nach kurzer Zeit mit einem Ruck wieder auf, blicken sich um, todmüde, verstört.

Von der Flut wurde der zweijährige Hannes Bergstroem aus Schweden von seinen Eltern getrennt. Inzwischen ist er wieder bei seinem Vater im Krankenhaus von Phuket. Die Mutter jedoch wird noch immer vermisst. (Foto: Foto: AP)

Bei manchen wacht ein Angehöriger am Lager: hier ein Thai, am Bett daneben ein Deutscher. Andere Ehemänner, Schwager, Freunde liegen auf dem Betonboden unter den Betten der Verletzten, versuchen, sich ein wenig Schlaf zu stehlen.

Bis auf das Wispern der Schwestern ist es still. Hier, sagt einer, liegen die, die Glück gehabt haben.

Oder wie soll man es sonst nennen, wenn es einen am Weihnachtsmorgen mitsamt dem Strandbungalow durch andere Bungalows hindurchschlägt, wenn der von den Wassermassen solchermaßen zum Projektil verwandelte Mensch schließlich wieder zu sich kommt, in der Krone einer Palme hängend. Mit gebrochenen Rippen oder angeknackstem Schulterblatt. Aber lebend.

Nur, das mit dem Glück ist so eine Sache. Da sitzt ein kleines deutsches Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, lange brünette Haare und bleich im Gesicht, und wenn man es nach seinem Namen fragt, dann erwidert es die Frage mit nichts als einem langen schweigenden Blick. Ja, das Mädchen lebt, es ist sogar unverletzt - doch es hat seine Eltern verloren.

Der selbst am ganzen Körper grün, rot und blau geschlagene junge Stuttgarter, der sie an der Hand hält, flüstert uns das zu. Das Mädchen schweigt. Eine halbe Stunde später murmelt sie den einzigen Satz, den wir von ihr in dieser Nacht zu hören bekommen: "Ist Wasser da?"

An der Wand beim Eingang hängt ein kopierter Waschzettel: "Sophia, zehn Jahre, sucht Vater und Mutter." Zerschunden das Kindergesicht auf dem Foto, Erschrecken im Blick. Kinder werden aus diesen Weihnachtsferien als Waisen nach Hause zurückkehren und Eltern ohne ihre Kinder. Und was das bedeutet, werden viele von ihnen vielleicht erst in Tagen oder Wochen erfassen.

Die Flut überlebt - an Blutvergiftung gestorben

Hier im Krankenhaus von Phang Nga liegen vor allem die Opfer des bei Deutschen sehr beliebten Khao-Lak-Strands auf dem Weg zwischen Phuket und der burmesischen Grenze. Es sind meist die, die nicht mehr laufen können.

Vielen hat es die Beine gebrochen, als die wütenden Wirbel des Tsunami am Sonntag die Menschen mit Kühlschränken, Motorrädern, Betonblocks und Baumstämmen durcheinander schleuderten, viele haben Fleischwunden. Eigentlich keine schlimmen Verletzungen, wären die Wunden sachgemäß behandelt worden.

Auch deshalb wollen einige hier nicht von Glück sprechen: Im Durcheinander der ersten Tage waren viele der Provinzkrankenhäuser überfordert. "Es herrschte absolutes Chaos", erinnert sich mit schwacher, aber klarer Stimme eine junge Rechtsanwältin aus München, die ganz hinten an der Wand liegt. "Als wir hergebracht wurden, lagen die Menschen auf dem Boden, in den Gängen."

Der Ort hatte Schulkinder abkommandiert, um die Verletzten zu betreuen. "Sie waren sehr nett. Aber die Schwestern verstanden uns nicht, und an einen Arzt zu kommen, war unmöglich." Ihr rechtes, gebrochenes Bein wurde schließlich ohne Narkose operiert. Es dauerte jedoch mehr als einen Tag, bis die Wunde an ihrem verletzten linken Bein gesäubert wurde. Da war sie schon entzündet.

Die Münchnerin bekam hohes Fieber und hatte offensichtlich eine Blutvergiftung, bevor sie zum zweiten Mal operiert wurde. "Ich bin fast durchgedreht", erzählt ihr ebenfalls verletzter Ehemann - der seine Frau erst kurz zuvor, auf ihrem Weg zum Operationssaal, zufällig wiedergefunden hatte.

Blutvergiftungen haben in den letzten Tagen schon Leben gekostet, und zwar von Menschen, die sich bereits in Sicherheit wähnten, nachdem sie die Jahrhundertwelle überlebt hatten. "Aber will man den Thai-Ärzten einen Vorwurf machen?", fragt der Deutsche Wilfried Bretz, der Mittfünfziger, den es in die Palme getragen hatte: "Manche haben hier drei Tage ohne Schlaf durchoperiert. Das verdient größten Respekt."

Warten auf die Evakuierung

Um sechs Uhr morgens durchflutet Neonlicht den Saal. Eine der freundlichen Schwestern möchte bei der jungen Rechtsanwältin die Infusionskanüle neu verlegen, sucht mit der Nadel ganze 20 Minuten vergeblich nach der Vene, lacht verlegen und sticht immer wieder von neuem zu.

Dann werden plötzlich Bahren hereingeschoben, zwei Rettungswagen stehen vor der Tür: Die Frau und ihr Ehemann werden verlegt, in ein besseres Krankenhaus, in einer anderen Provinz. "Endlich", flüstert sie.

Auf Evakuierung warten sie hier alle, die Ausländer. Es ist nicht ganz klar, wen das Los trifft und wen nicht. "Die Regierung verschiebt hin und her, und keiner blickt mehr durch", meint eine junge schwedische Helferin. Es sind viele Freiwillige da.

Sie empfangen Hilfesuchende am Tor, verteilen Obst, aktualisieren ständig die Namenslisten der Patienten und der Vermissten. Die Helfer sind norwegische Reiseleiter, englische Studenten, deutsche Ärzte, die auf Urlaub hier waren.

Viele haben selbst am Mittwoch noch keinen Kontakt zu irgendeinem Freund oder Verwandten aufnehmen können: Sie sind wegen ihrer Verletzungen an ihr Bett gefesselt und waren zudem nackt gewesen, als man sie fand. Handys haben auf der Station nur ein paar Einheimische, oft mit fröhlicher Karussellmusik als Klingelton.

Noch immer aber sind die Telefonnetze in manchen Orten zerstört oder hoffnungslos überlastet. Nach Khao Lak - wo die meisten hier sich überlebende Verwandte erhoffen - ist kein Durchkommen.

Die Thai-Schwestern sprechen meist nur ihre Muttersprache, so erhebt sich im Lazarett mit letzter Kraft ein allgemeines Gemurmel auf deutsch und auf englisch, wenn ein europäisches Gesicht auftaucht auf der Station. "Hallo, bitte!", ruft die Patientin Nummer 34. "Entschuldigung", keucht die Österreicherin in der Ecke. "Helfen Sie", fleht die Engländerin mit den unerträglichen Schmerzen.

Es sind kleine Bitten: Ob man übersetzen, eine E-Mail an die Familie schreiben oder - "ich bitte Sie inständigst" - das Kopfteil hochkurbeln könne. "Fünf Tage liege ich schon flach auf dem Rücken", murmelt die Österreicherin, die kaum ihren Kopf rühren kann: "Ich werd' bald verrückt".

Fünf Tage, sagt sie - wo doch das Unglück erst drei Tage her ist. So quälend lange erscheint den Menschen hier die Zeit, in der sie hilflos an die Decke starren, Bilder wälzend, Hoffnungen hegend, viele noch unter Schock.

Junge Mädchen liegen hier, zerschlagen, vor allem aber allein. Die Britin Paula Watts mit dem aufgequollenen linken Auge glaubt am Morgen noch, alle vier Freunde verloren zu haben, mit denen sie gereist war. "Ich weiß nicht, wie oft ich unter der Welle dachte, ich sterbe. Eine halbe Stunde hat sie mich hin- und hergeschleudert.

Irgendwann habe ich nur noch gehofft, dass das Ende schnell kommt." Die 13-jährige Sophie Hamer aus Börnsen, ein hübscher Teenager mit grünen Augen und langem Haar, die Vorüberlaufende bittet, ihr die Wasserflasche an den Mund zu führen, hat noch keine Ahnung, wie es ihrer Mutter und ihrem Bruder Moritz ergangen ist.

Manchmal reicht sogar ein Handy, um den Menschen Glück zu bringen. Ein Besucher drückt es ihnen ans Ohr. Sophie kann kaum mehr sprechen, als sie die Stimmen hört: Die Mutter lebt und Bruder Moritz auch. Ihre Augen leuchten.

Drei Betten weiter: Paula Watts erreicht ihre Mutter, heult, verschluckt sich. "Ich brauche euch, hier!" Sie weint Tränen der Erleichterung: Zwei ihrer vier Freunde sind am Leben, und sie mag es kaum glauben: Einer, Rick, liegt im gleichen Krankenhaus. Als Rick fünf Minuten später hereinhumpelt, fallen sich die beiden um den Hals, Paula wird von Weinkrämpfen geschüttelt.

Krankentransport zum Flughafen: Um zwölf Uhr mittags fliegt die letzte LTU-Maschine, die von der deutschen Regierung organisiert worden war. Im Minibus sitzen drei Deutsche, unrasiert, am Leib Hemden und Shorts, die sie vom Haufen der gespendeten Kleider im Krankenhaus genommen haben.

Seine Frau sei verschollen, erzählt der eine. Seine Freundin auch, der andere. Ebenso seine Lebensgefährtin, der dritte. Sie fliegen allein zurück nach Deutschland. "Dort werden wir doppelt so schnell gesund", glaubt Wilfried Bretz, der in einen thailändischen Frauenrock geschlüpft ist. "Und dann kommen wir wieder, suchen unsere Frauen."

Der deutsche Botschaftsvertreter im Rettungszentrum von Phuket, wo die Tafeln mit den Steckbriefen der Vermissten täglich länger werden, hört so etwas nicht gerne. "Das macht keinen Sinn, damit machen die Leute sich und uns das Leben schwer." Warum? "Waren Sie in Khao Lak?", fragt er mit vielsagendem Blick: "Dort und an anderen Stränden sind unsere BKA-Leute im Moment - die bergen nur noch Leichen." Leichen, deren Gesichtszüge schon jetzt kaum mehr zu erkennen sind: Das tropische Klima beschleunigt die Verwesung.

Wilfried Bretz, der Mann, den es samt Bungalow-Resten auf die Palme trug, lebt also. Großes Glück, oder? Bretz erzählt von seiner Frau. Regelmäßig, wenn der Wagen über ein Schlagloch holpert, schreit er auf: die Rippen, das Schulterblatt. "Wir waren schon letztes Jahr hier", sagt er.

Dann hatte seine Frau einen Tauchunfall und verletzte sich. Jetzt erst recht!, habe sie nach dem Unfall gesagt: "Lass uns noch einmal nach Khao Lak fahren. So möchte ich es nicht in Erinnerung behalten." Also sind sie gefahren.

© SZ vom 30.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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