Dr. Livingstone, I presume?" Diese Frage soll der Kolonialabenteurer Henry Morton Stanley gestellt haben, als er am 10. November 1871 auf den als verschollen geglaubten Missionar und Entdecker David Livingstone in Ujiji am Tanganjikasee in Ostafrika traf. Der Satz fehlt in keinem deutschen Englischbuch als Beispiel für Abenteurer und Entdecker, und so hat man die beiden umtriebigen Afrikaforscher, einander freundlich die kolonialen Hüte zu schwenkend, auch im örtlichen Museum als Skulpturen verewigt.
Dabei ist der legendäre Satz nur von dem damaligen Kriegsberichterstatter des New York H er ald, Henry Morton Stanley selbst, in seinem Buch "Wie ich Livingstone fand" überliefert und damit schon Teil der Legende, die dieser erschaffen wollte. Geradezu "berüchtigt" war der britisch-amerikanische Autor für solcherart Schlagzeilen aus dem "dunkelsten Afrika". Nebenbei vergaß er aber nie, seine eigenen, ebenfalls "dunklen Geschäfte" voranzutreiben. Zum Beispiel, als er für den belgischen König Leopold II. am Ufer des Kongoflusses soviel Land erwarb, dass dieser 1885 eine ganze Kolonie samt Sklavenbesitz daraus formen konnte.
In den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts jedoch herrschte unter den europäischen Kolonialmächten vor allem noch das "Nilfieber", ein Wettlauf zu den sagenumwobenen Quellen des Nils, wo man das "Herz" des afrikanischen Kontinents in Ostafrika vermutete. Zwar hatte John Henning Speke 1862 die Ripon-Fälle entdeckt, an denen der Nil den gewaltigen Victoriasee in nördlicher Richtung verließ, und manch einer gab sich mit dieser imposanten "Nilquelle" zufrieden.
Aber irgendwo mussten die Wasser des Nils ja in den berühmten See hinein geflossen sein, weswegen sich Livingstone nach seiner Wiederauffindung durch Stanley direkt wieder auf die Suche nach den Nilquellen machte. Er vermutete diese eher in dem zum Kongosystem gehörigen Bangeweulu-See. Bis Richard Kandt 1898 die Rukarara-Quelle entdeckte. Und schließlich die mündungsfernste Nilquelle am Fuße des Ruwenzori-Gebirges, der "Mondberge" in Burundi, von Burkhart Waldecker 1937 bestimmt wurde. Solange war das Geheimnis der Nilquellen weiter umstritten. Dass diese geheimnisvollen Berge mit den einzigen Gletschern Afrikas irgendwie mit dem Ursprung des Nils zu tun haben könnten, war allerdings schon viel früher vermutet worden.
Hintergrund der Suche nach den Nilquellen bildeten die kolonialen Verteilungswettkämpfe zum Beispiel um "Britisch-Ostafrika" in der Nähe des Äquators, später Kenia. So muss man sich die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts in Ostafrika vorstellen: bestimmt von einem Gewimmel an Expeditionen mit großen Armeen eingeborener Träger, bei Stanley sollen es mehr als 190 gewesen sein. Stets befand man sich in Angst vor Überfällen durch arabische Sklavenjäger, Attacken feindseliger Eingeborener und vor der Infizierung mit gefährlichen exotischen Krankheiten. Zu Hause in England erwartete die "Royal Geographical Society" rasche Ergebnisse. Schließlich war sie gewissermaßen für den informellen Überbau der britischen Kolonialpolitik und die weißen Flecke auf den Landkarten zuständig. "Die Nilfrage ist gelöst" hatte John Henning Speke nach London telegrafiert. Nur der anerkannte Missionar David Livingstone glaubte ihm eben von Anfang an nicht und suchte weiter nach den Nilquellen. Damit befand er sich historisch in guter Gesellschaft.
Die Suche nach den Quellen des Nils ist nie beendet
Schon bei den Römern galt "Caput Nili quaerere", die Suche nach dem Haupt des Nils, als gleichbedeutend mit einer sinnlosen, unsinnigen Unternehmung, der sich gleichwohl nicht einmal der pragmatische Julius Caesar verschließen konnte. Er soll sogar überlegt haben, auf eine Begegnung mit Kleopatra zugunsten einer Forschungsexpedition zu den Quellen zu verzichten, schickte aber dann wenigstens zwei Centurionen mit diesem Auftrag los.
Das wahre "Geheimnis des Nils" lag aber schon seit Tausenden von Jahren darin, dass der heilige Fluss der Ägypter einmal im Jahr die weite Ebene bis zum Delta am Mittelmeer mit fruchtbarem Urschlamm überschwemmte, und der stammte überhaupt nicht vom "Weißen Nil" aus dem Victoriasee, sondern vom "Blauen Nil", der bei Khartum im heutigen Sudan mit diesem zusammenfließt. In der Regenzeit im August dominiert der extrem sedimentstarke Fluss aus dem äthiopischen Tanasee derart den Nil, dass der "Weiße Nil" sich temporär zurückstaut und dem jährlichen segenbringenden Fruchtbarkeitsschock des "wahren Nils" - vertreten in der ägyptischen Mythenwelt durch einen eigenen Gott, Hapi, den Vortritt lässt. Der "Blaue Nil" bestimmte bekanntlich die Geschichte der ältesten prosperierenden Hochkultur der Welt in Ägypten und wurde schon 1613 von einem Jesuitenmissionar entdeckt.
Auch am stärksten Zufluss zum Victoriasee als Urform des "Weißen Nils" sind Zweifel erlaubt. Schließlich mündet vom Osten her der "Mara"-Fluss aus der Serengeti in den Victoriasee und der spendet nicht nur Gnus und Zebras den Lebenssaft. Auch Nilkrokodile tummeln sich darin. Die Suche nach den Quellen des Nils ist also nie beendet. Weil sie in Wahrheit die Suche nach den "Quellen des Lebens" ist.
Nach weiteren Expeditionen starb David Livingstone, sein Leichnam wurde 1874 in der Londoner Westminsterabtei begraben. Sein Herz aber soll der Legende nach in Afrika geblieben sein, begraben am Fuße eines Affenbrotbaumes. Ein kleiner Bach soll dort entspringen und sich dem Vernehmen nach sogleich auf den Weg zum Victoriasee machen. Ist das etwa die wahre Quelle des Nils?