SZ-Forum Wissen:"Wie frei ist der Mensch?"

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Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun Die Gehirnforschung hat die Vorstellung vom freien Willen ins Wanken gebracht. Wissenschaftler sind auf der Suche nach einem neuen Menschenbild.

Von Ulrich Kühne

Die Revolution ist vorüber. "Das metaphysische Modell des freien Willens gibt es nicht mehr." Fast beiläufig warf Wolfgang Frühwald dieses Resümee nach einer Stunde in die Diskussionsrunde.

Kein Widerspruch. Auf dem Podium und im Publikum nur zufriedene Gesichter. Den alten Ballast ist man losgeworden. Dem Neuen gilt nun die ganze Aufmerksamkeit: Was es heißt, ein Mensch zu sein, nachdem die Ergebnisse der Hirnforschung bekannt und akzeptiert sind.

Vor fünfzehn Jahren waren Naturwissenschaftler angetreten, in einem "Jahrzehnt der Hirnforschung" das Selbstbild des Menschen umzustürzen. Freiheit, Bewusstsein, Kultur - die Kernthemen der geisteswissenschaftlichen Reflexion sollten auf eine neue Grundlage gestellt werden.

Das neue Wissen über die neuronale Mechanik unseres Denkorgans sollten den philosophischen Glauben an das selbstbestimmte Individuum als Vorurteil entlarven. Heftige akademische Debatten hat es darüber gegeben, etwa ob der Mensch seine Würde verliere, wenn man sein Denken aus dem Blickwinkel der Hirnforschung betrachte.

Debatte zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern

Diese Debatten, so scheint es heute, waren wohl weitgehend aus bloßen Missverständnissen auf beiden Seiten gespeist.

"Wie frei ist der Mensch?" - Zu dieser Frage hatte das Forum Umwelt-Wissenschaft-Technik der Süddeutschen Zeitung in der vergangenen Woche zu einer Podiumsdiskussion eingeladen.

Wäre es nur um den alten Streit der zwei Kulturen - Geistes- gegen Naturwissenschaft - gegangen, hätte man die Ausgangslage als unfair bezeichnen müssen: Nur ein Naturwissenschaftler, der sich gegen drei Geisteswissenschaftler behaupten musste.

Gerhard Roth, Hirnforscher der Universität Bremen, auf der einen Seite. Auf der anderen: Für die Rechtswissenschaft Klaus Lüderssen, Professor für Strafrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt, für die Geschichtswissenschaften Johannes Fried, ebenfalls Frankfurt, und für die Philosophie Wilhelm Vossenkuhl aus München.

Moderiert hat Wolfgang Frühwald, auch ein Geisteswissenschaftler - der erste Geisteswissenschaftler übrigens in der Ahnenreihe der Präsidenten der Alexander von Humboldt-Stiftung. Beste Voraussetzungen für hitzige Debatten, sollte man meinen. Es waren zwei Stunden harter Gedankenarbeit - in bester Harmonie.

Zu einer Bedrohung für die traditionelle Philosophie der Willensfreiheit wurde die moderne Hirnforschung mit den Entdeckungen des Neurophysiologen Benjamin Libet von 1979. Libet hatte ein folgenreiches Experiment gemacht:

Er maß die Hirnströme von Versuchspersonen, die er aufgefordert hatte, nach einer willkürlichen Zeit, ganz nach Belieben, eine einfache Handbewegung zu machen und sich zugleich anhand einer Präzisionsuhr zu merken, wann sie den Entschluss dazu gefasst hatten. Erstaunlicherweise konnte Libet in den Hirnströmen ein eindeutiges Signal feststellen, das regelmäßig eine halbe Sekunde früher auftrat, als den Versuchspersonen ihr Entschluss bewusst geworden war.

Gleich in seinem Eröffnungsvortrag nannte Frühwald die Konsequenz dieser Entdeckung: "Im Gehirn findet also die Entscheidung für eine Handlung unbewusst statt. Sie wird erst nachträglich durch das Bewusstsein der handelnden Person gleichsam ratifiziert." Oder kurz: "Wir tun nicht was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun."

Zahlreiche spätere Experimente kamen zu dem gleichen Ergebnis, berichtete Gerhard Roth anschließend. Diese gehen so weit, dass es schon gelungen sei, einer Versuchsperson mittels eines Reizes in einer bestimmten Hirnregion dazu zu zwingen, den Arm zu bewegen, und die Versuchsperson ist anschließend der sicheren Überzeugung, sie habe den Arm aus freiem Willen bewegt.

Zwei wesentliche Grundlagen des Freiheitsbegriffs sieht Roth hierdurch widerlegt: Zum einen der Glaube "Ich bin es, der das tut." Zum anderen das subjektive Gefühl einer Wahlmöglichkeit: "Ich könnte auch anders handeln, wenn ich es wollte." Das Ich, von dem hier die Rede ist, wurde im Gehirn nirgendwo gefunden, wohl aber ein Mechanismus, der sämtliche scheinbaren Willensakte vollständig determiniert.

"Die Experimente müssen ernst genommen werden"

Wie reagieren die Geisteswissenschaften auf diese Provokation? "Die Experimente müssen ernst genommen werden." Hinter diese Prämisse von Vossenkuhl ist keiner der Diskutanten zurückgewichen. Philosophie habe in diesem Verständnis nicht die Aufgabe, Tatsachen zu behaupten oder zu widerlegen, sondern zu interpretieren.

Vossenkuhl konnte auf Aspekte des Freiheitsbegriffs verweisen, die auch bei Anerkennung der neuesten Ergebnisse der Hirnforschung Bestand hätten: In den meisten Theorien der Philosophiegeschichte wurde Freiheit nicht als Behauptung einer empirischen Tatsache begriffen, sondern als Postulat oder Norm. "Der Mensch ist so frei, wie er sich machen kann."

Die Experimente von Libet sieht Vossenkuhl schon dadurch eingeschränkt, dass sie nur Minimalhandlungen untersuchen - die Freiheit, eine kleine Handbewegung zu machen -, nicht aber die komplexen Handlungsentscheidungen zwischen widersprüchlichen Gründen und Motiven, mit denen sich die Philosophie von der privaten Lebensplanung bis zur Staatstheorie beschäftigt.

Für unser Rechtssystem sind die Entdeckungen der Hirnforschung jedoch, wie Klaus Lüderssen darlegte, dramatisch.

Nicht nur das Strafrecht gründet sich mit seiner Unterscheidung zwischen Vorsatz und Affekt auf die Idee des zur freien Entscheidung fähigen, verantwortlichen Individuums.

Auch im Vertragsrecht könnte keine der bisherigen Rechtskonstruktion Bestand haben. Die Veränderung, die unserem Rechtssystem bevorstehe, verglich Lüderssen mit der Kopernikanischen Revolution.

Es ist beruhigend, dass diese Revolution wohl in den meisten Fällen nur den juristischen Argumentationsweg betrifft, nicht das Ergebnis im Urteil. Verbrecher wird man weiterhin bestrafen können, auch bei einem neuronal determinierten Tatverlauf, nur wird die Begründung dann nach Art des Maßregelrechts ausfallen müssen und insbesondere mit der "Gefährlichkeit" des Täters argumentieren.

Zugleich war Lüderssen jedoch der Diskussionsteilnehmer, der am eindringlichsten vor einer Überbewertung der Libet-Experimente warnte: "Wissen wir schon genug?"

Zwischen den bisherigen experimentellen Resultaten und den "großen Thesen" der Hirnforschung über den Freiheitsbegriff liege eine Erklärungslücke, die mit vielen unzureichend reflektierten Annahmen gefüllt sei.

Für die große Revolution der Rechtswissenschaft hält es Lüderssen jedenfalls, bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber Neuigkeiten aus der Hirnforschung, noch zu früh.

Dagegen wirkte der Historiker Johannes Fried geradezu erleichtert über die Chance, die Resultate der Hirnforschung in seine Disziplin integrieren zu können.

Im Blick auf die Jahrhunderte lösen sich alle begrifflichen Absolutismen auf. Von Adam bis Libet betrachtet - von den scholastischen Traktaten über die Frage "Hätte Adam den Apfel verweigern können?" - erscheine heute die Lehre vom freien Willen wie ein "Implantat" in die europäische Zivilisation. "Freiheit ist eine Erinnerung an etwas, was nicht geschehen ist, aber als reale Erinnerung begriffen wird."

Die Anfänge der modernen Vorstellung vom freien Willen, konnte Fried berichten, liegen erstaunlicherweise in der Auseinandersetzung mit der Folter.

Folter galt früher als berechtigtes Mittel, um die Wahrheit eines Geschehens zu ermitteln. Erst mit dem Templerprozess von 1308 und der Erfahrung, dass Menschen auch unter Folter lügen können, entstand die Einsicht, dass es einen "freien Willen" gibt, der nicht bezwungen werden kann.

Es ist tatsächlich nur ein sehr spezieller, absolutistischer Freiheitsbegriff, der von der neueren Hirnforschung widerlegt wird. Die erste Frage aus dem Publikum war dann auch, ob man wirklich erst die Hirnforschung bemühen müsse, um zu dieser Einsicht zu gelangen.

Die Antwort von Gerhard Roth: "Ein guter Menschenkenner konnte das seit zweieinhalbtausend Jahren wissen."

Wichtiger als die Fähigkeit, alte Irrtümer zu widerlegen, sei jedoch die Suche nach neuen Möglichkeiten und Einsichten aus der Hirnforschung, beispielsweise bei der Therapie von Straftätern oder bei der Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen.

Möglichkeiten, die Freiheit zu vergrößern

Auch und gerade indem sie das Gehirn als deterministische Maschine begreift, eröffne die Hirnforschung Möglichkeiten, die Freiheit im wohlverstandenen Sinn zu vergrößern.

Wie dieses neue, mit der Hirnforschung verträgliche Freiheitsmodell aussehen könnte, versuchte Roth zu skizzieren: Im Unterschied zu allen Tieren ist das menschliche Gehirn zur langfristigen Handlungsplanung fähig. Es kann sich unzählige Alternativen vorstellen und ihre Konsequenzen gegeneinander abwägen.

Auch wenn dieser Prozess des Abwägens determiniert ist, bedeute es einen Gewinn an Freiheit, sich mit der Frage "Hast Du auch alles gut durchdacht?" die Menge der Alternativen, die in den Entscheidungsprozess eingehen, zu vergrößern.

Frei fühlen wir uns, wenn die bewussten und die unbewussten Teile unseres Gehirns zur selben Entscheidung konvergieren.

Die Hirnforschung erschien in der Debatte mehr als Hoffnung denn als Schrecken. Das Wissen über die neuronalen Prozesse des Lernens und Entscheidens könnte uns helfen, dem Idealbild eines freien Menschen, der durch nichts behindert wird, außer durch vernünftige Gründe, näher zu kommen.

Erfüllt hat sie diese Hoffnung freilich bisher noch nicht. Das Wissen über das Gehirn lässt sich noch nicht technisch anwenden, um etwa Geisteskranke von ihren Zwängen und Straftäter von ihrer Gefährlichkeit zu befreien.

Aber mit den Hoffnungen liegen auch die Befürchtungen noch in weiter Ferne: Dass sich die Erkenntnisse der Hirnforschung missbrauchen ließen, um Menschen durch die Werbeindustrie oder durch einen Despoten skrupellos zu manipulieren. "Wir kennen die Richtung, aber wir wissen noch nicht, wie das Neue aussehen wird", resümierte Frühwald.

© SZ vom 17.05.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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